Abends in der Huschhalle

Abends in der Huschhalle 

Ich sitze in einer Lache Bier. Martin hatte das Getränk vorher über meiner Bank verteilt. Ich fühle mich ein bisschen so, als hätte ich mir eingepisst. Ich fühle mich wohl, hier in der Huschhalle. Vollgepisste Hosen sind hier nichts Anstößiges. Sind eher ein Zeichen dafür, dass du vielleicht langsam den Heimweg antreten solltest. Vorausgesetzt du bist noch in der Lage dazu. Doch verurteilt wirst du dafür nicht. Sowas passiert halt mal. 


Ich schiebe mich an den zahnlosen Säufern vorbei und bestelle ein neues Bier und zwei Pfeffi. Das kleinste Maß, das sie führen, ist eine hundert Milliliterflasche. »Ein Willi«, wie er auch gerne von trunksüchtigen Hausfrauen genannt wird. Wenn du den Flachmann ansetzt, musst du der Versuchung widerstehen zum Gurgeln anzusetzen. Nein, das ist kein Mundwasser, sondern ein edles Likörchen. Ein virtuoses Schmeckerchen sozusagen. Die grüne Farbe vermittelt Hoffnung an einem ereignislosen Abend. Die Leute hier sehen so aus, als würden sie davon noch einige brauchen. 


Die Toiletten befinden sich im Keller. Du musst dazu um das kleine Gebäude herumlaufen, das früher mal ein Bahnwartehäuschen war. Ich gehe an einem traurigen Arbeiter im Blaumann vorbei, der immer noch so aussieht, als würde er auf die Straßenbahn warten. Doch er trinkt nur sein Bier und blickt gedankenverloren auf die vielbefahrene Kreuzung Tharandter Straße Ecke Kesselsdorfer. Der stark frequentierte Verkehrsknotenpunkt taucht die ganze Umgebung in ein beständiges Rauschen. Die Bahnen fahren jetzt noch im Minutentakt. Es ist laut. Und irgendwie fühlst du dich doch wie auf einer einsamen Insel, wenn du dort sitzt, auf der Verkehrsinsel, auf der du gestrandet bist und von der du nicht mehr wegkommst. Die korinthischen Säulen im Eingangsbereich verleihen dem ganzen Laden einen leicht exotischen Charme. Sie stammen aus den Trümmern des alten Löbtauer Rathauses, das im Krieg zerstört wurde. 

Vor dem Klo hängt ein Gedenkkreuz. Vergangenes Jahr wurde hier ein 61-jähriger Mann erschlagen, der aus Ungarn stammte. Wahrscheinlich ist eine unbedeutende Kneipenstreiterei ein wenig ausgeartet. Wenn du jahrelang tagtäglich trinkst, um deinem Leben aus dem Weg zu gehen, kann es vorkommen, dass dich plötzlich Belanglosigkeiten zu einer übermächtigen Dringlichkeit auffordern. Vielleicht willst du dann deinen besten Freund abstechen, nur weil er ganz beiläufig eine abschätzige Bemerkung über Uli Hoeneß geäußert hat.


Der Name des Verstorbenen steht auf dem Kreuz. Anscheinend hatte sich ein Rechtschreibfehler eingeschlichen. Der fehlende Buchstaben wurde nachträglich eingefügt. Immerhin. 

Nach dem Tod dieses Gastes solle der Kneipenbetrieb nahtlos weitergegangen sein. Viel gespürt hätte man davon wohl nicht, wie es in einem Artikel der Sächsischen Zeitung heißt. Die Klientel sei einiges gewohnt. Doch wenn man sich für so ein Leben entschieden hat, dann schwingen Gedanken an das eigene Ende letztlich doch immer irgendwie im Raume mit. Du musst damit rechnen, dass vielleicht morgen schon der ein oder andere nicht mehr da ist. Vielleicht bist du es ja selbst, wer weiß. 

Der Exzess trägt hier noch seine ursprüngliche Bedeutung. Es geht nicht mehr nur um die harmlose Ausschweifung. Die ist längst zur Alltäglichkeit geworden. Es geht darum, aus sich selbst herauszutreten, Grenzen zu überwinden. Es geht darum jemand anderes zu werden, um all die furchtbaren Geschichten zu vergessen, die hier jeder mit sich herumträgt. Man versucht seine Probleme zu Hause zu lassen. Psychologisch gesehen vielleicht nicht unbedingt das klügste, den gegebenen Umständen entsprechend aber wahrscheinlich das vernünftigste. Die Leute kommen her, um abzuschalten. Für den ein oder anderen ist die Huschhalle deshalb so etwas wie eine Oase, ein zweites Zuhause, oder sogar das einzige. Hier herrschen eigene Gesetze, die mit dem eigentlichen Leben nichts mehr zu tun haben. Hier herrscht Kalypso, die den Gästen auf ihrer Insel ewiges Leben verspricht und sie sogar mit einem durchaus schmackhaften Gulasch bewirtet. Auch Würste und andere Leckereien sind hier zu haben. Man weiß eben, was das Trinkerherz begehrt. Man muss diese Insel quasi nie mehr verlassen. Oder jedenfalls fast nie. Denn zwischen fünf Uhr nachts und sechs Uhr morgens ist selbst in der Huschhhalle mal geschlossen – um sauber zu machen. Ansonsten aber hat sie durchgängig geöffnet. Das ganze Jahr über. Die eine Stunde Ruhezeit brauchst du aber auch, um einen gewissen Rhythmus beizubehalten, der dir dabei hilft, nicht komplett den Verstand zu verlieren. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. 

 

Fast schon idyllisch geht es hinten auf der Terrasse vor sich, die einen Blick auf die Vereinigte Weißeritz gewährt. Der kleine Bach – auch er ist recht laut und verstärkt dieses unaufhaltsame Rauschen auf der Straße und das im Kopf – manifestiert sich zum Sinnbild unseres Daseins an diesem Ort: Das Leben plätschert so vor sich hin und lässt die restliche Welt in einem stumpfen und matten Ton verschwinden. Der Pfeffi haut in Kombination mit den restlichen Rauschmitteln nun ordentlich rein. Es wird schwerer aufzustehen, sich loszureißen. Der Heimweg erscheint plötzlich unendlich weit. 

Doch Rettung naht! Eine Bewegung ist in dem Durchgangszimmer zu hören, die die Säufer daran hindert mit dem Kopf auf die Tische zu knallen – das Bier fest umklammert versteht sich. Es ist ein Song, der hier alle aus dem Koma reißt. »Rivers of Babylon« von Boney M. ist so etwas wie die inoffizielle Hymne der Huschhalle, wie ich mir hab sagen lassen. Ein Song, der Stimmung in die Bude bringt, obwohl das Lied ja nicht unbedingt dazu einlädt. Zu melancholisch ist der Grundtenor, auch wenn hier teilweise fröhliche Reggaesounds aus den 70er Jahren anklingen. Der Liedtext aber beruht auf dem Psalm 137/1, in dem es um das Leben der Juden in der Versklavung geht: »An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.« 


Traurig ist das alles schon, wenn man sich das so vor Augen hält, doch irgendwie ist es auch schön, dass es diesen Ort gibt und dass diese Leute ihren Platz gefunden haben. Viele von ihnen sind Arbeitslose, andere vereinsamte Rentner, manche auch laute Proleten, der größte Teil von ihnen Stammgäste, gestrandet auf dieser Insel des Vergessens, ausgespuckt von einer Welt voller Irrwege. Und auch du selbst bist einer von ihnen. Nur ein stetes Glück hat dich davor bewahrt, nicht ewig hier zu versacken. Nicht umsonst bist du so angezogen von dieser Gossenatmosphäre, so interessiert und belustigt von den Menschen und Ereignissen hier. Angezogen auch von der behaglichen Tatenlosigkeit und der Faszination eines schier uferlosen Rausches, der zumindest manchmal den einzig heilsamen Ausweg aus den Wirren des Alltags darstellt. 


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