Du kannst nicht entfliehen

Du kannst nicht entfliehen

Du siehst Werbetafeln, die deinen Namen flüstern. Pop-ups, die dich dazu verleiten deine Frau zu betrügen. Drogen, die dich dazu bringen, Menschen zu essen. Du hast zu viel Zeit im Internet verbracht, als dass du deine Ängste einfach vergessen könntest. Die Scheiße, die du dort gesehen hast, kriegst du einfach nicht mehr aus deinem Kopf.


Kannst du wirklich noch zwischen deiner eigenen Paranoia und der Paranoia der Anderen unterscheiden? Entsteht dieses entsetzliche Zähneknirschen wirklich durch deine eigenen Kieferknochen oder stehen sie schon wieder hinter dir und wetzen ihre Messer? Horrorclowns, unter deren Masken du immer nur dein eigenes Gesicht erblickt hast. 

Ich hab dir gesagt, du sollst diese ganzen Vergewaltigungspornos nicht in Endlosschleife ansehen. Irgendwann laufen sie im Hintergrund einfach weiter. Du kannst ja jetzt schon nicht mehr richtig dazu wichsen. Es muss immer ekliger werden. Irgendwann wirst du dich dabei erwischen, wie du in den Tiefen des Darknets die Pädophilenchats durchstöberst und dem virtuellen Ich deiner Eltern begegnest. Es wird dir aber wohl erst in dem Moment bewusst werden, wenn du zu Kinderpornos onanierst, in denen du selbst zu sehen bist – als der kleine Junge von damals. Erst kurz nach dem Orgasmus ist es dir dann irgendwie peinlich, weil du deine Webcam nicht abgeklebt hast. Haben sie dich gesehen? Deine Eltern, meine ich. 

Böse Flashbacks an die Momente, in denen sie ohne Vorwarnung in dein Zimmer geplatzt sind und du versucht hast ganz cool zu bleiben – mit der Erektion unter der Decke, während sich dein Gesicht ganz rot verfärbt hat. Du kannst bis heute nicht sagen, ob sie irgendetwas gemerkt haben. Frag sie doch das nächste Mal, wenn du mit ihnen chattest. 

Horrorfantasien. Wieder und wieder. Keine Ahnung, was die schon wieder wollen. Sie brechen in dein Bewusstsein ein und verkleben Türen und Tore der wenigen noch vernünftigen Gedankengänge. Lassen ein Labyrinth zurück, das dir hinter jeder Ecke eine neue Freakshow zeigt. Die Angst ist dir unablässig auf den Fersen. Je schneller du rennst, desto heftiger wird sie. Das ist der Alptraum, den du Realität nennst. Du kannst nicht entfliehen. Beständig spürst du die kühle Klinge eines Messers, das dir von hinten an die Kehle fährt. Kalter Schweiß auf deiner Stirn. Und Hitzewellen, die deinen Rücken hinauffahren und sich in deinem Nacken festsetzen. 

Du findest dich in deinem Bett wieder. Die Fenster fest verschlossen. So als würdest du die Realität damit aussperren können. Doch in donnernden Pulsschlägen spürst du ihre Präsenz hinter den Gardinen und jeder Pulsschlag lässt dich schmerzend Alpdrücke spüren. Dein Brustkorb zieht sich zusammen. Dein Herz setzt aus, wenn du daran denkst das Haus zu verlassen und unter Menschen zu treten, die jeden Millimeter deines Körpers mit ihren Augen abscannen, mit ihren Blicken berühren, die wie Krakenarme über deinen Körper fahren, wie feuchte Hände über dein verängstigtes Gesicht streichen. 

Du hast dieses Gefühl schon tausend Mal gespürt und weißt, dass sie in jenem Moment in deinen Kopf eindringen und deine schlimmsten Gedanken aufspüren. Du wehrst dich dagegen daran zu denken, aber es geht nicht. Du führst sie dadurch erst zu deinen geheimsten Türen, die lautstark aufgestoßen werden, so dass jeder sehen kann, was für ein krankes Schwein du wirklich bist. Du bist jetzt ganz Scham und fühlst dich wie Eva, die vor dem Antlitz Gottes ihre eigene Schwäche eingestehen muss. Du sinkst in dich zusammen. Du kannst dich aber nicht verstecken. Du kannst dem nicht entfliehen. Warum aber tust du es trotzdem? Die Straßen werden zu klebrigem Teer, an dem deine Füße bei jedem Schritt ein bisschen fester haften. Und du versinkst in dieser endlosen Befangenheit. Die Luft ist zu kalt, als dass du schreien könntest. Warum solltest du auch? Was würde das bringen?

Du spürst deine eigene Schwere wie eine gewaltige Last auf dir sitzen. Du kannst nicht entfliehen. Du weißt es. Schließlich hast du sie gesehen: winzige Mikrochips, die sie über uns abwerfen. Wir atmen sie ein mit jedem Atemzug. Sie setzen sich unter unsere Haut, dann fängt es an zu jucken. Du spürst diesen Juckreiz gerade. Ist es nicht so? Du spürst ihn, wenn die Sensoren in der Nähe sind. Und in der Stadt sind die fast überall. 

Das Jucken kommt davon, weil die Mikros kleine Stromstöße absondern, wenn die Sensoren mit ihnen kommunizieren. Die Mikros sind mit unserem Nervensystem verbunden. Du weißt es. Du kannst es spüren, wie sie deine Gedanken aus dir heraussaugen und dafür diese schlimmsten aller Gefühle hinterlassen. Denn nichts ist schlimmer, als diese Gefühle, die nicht dir gehören. Aber dennoch sind sie da. Diese Gefühle, die dich überwältigen und nur noch diese kühlen Stellen hinterlassen. Leerstellen, die nur noch durch vorgefertigte Konsumprodukte befriedigt werden können. 

Und dann sprechen sie wieder zu dir – die Werbetafeln, die deinen Namen flüstern. Und du kannst nur noch sagen, dass du den ganzen Scheiß tatsächlich willst. Denn sie wissen, was du willst. Schließlich haben sie dieses Bedürfnis erst in dir geweckt. Alles, was du willst, musst du ab sofort nur noch wollen, weil sie es wollen. Du kannst nichts mehr dagegen tun. Du kannst nicht entfliehen. Du kannst dich dem nur noch ergeben. Du hast ja schon alles versucht. Die Mikros sind ja auch nicht so ohne Weiteres herauszuholen. Erinnerst du dich, wie dein Gesicht damals ganz übersät war, von den vielen Narben? Du hattest versucht die kleinen Kameras aus deiner Haut zu schneiden. Aber es waren einfach zu viele. Du hast es einfach nicht geschafft die kleinen Widerhaken zu entfernen, die mit deinen Nervenenden verbunden waren. Sie saßen einfach zu tief. Bei genauerer Betrachtung ähnelten sie kleinen Männern, die du schließlich das Klo heruntergespült hast. Noch in derselben Nacht aber sind sie als missgebildete Kreaturen die Toilette wieder nach oben gekrochen. Kleine Arme und Beine, die sich in den Teppichen festkrallten und sich bis zu dir ins Bett schleppten, wo sie dann an ihre ursprünglichen Stellen wieder zurückkehrten. Deine Mutter bemerkte damals das ganze Blut und hat den Notarzt gerufen. Im Krankenhaus hat dir mal wieder niemand glauben wollen. Sie haben dich ruhig gestellt und dir Medikamente gegeben, damit die Mikros wieder richtig funktionierten. Sie sagten, es wäre das Beste für dich. Und vielleicht hatten sie sogar recht damit. 



(Der Text ist entstanden für die Szenische-experimentelle Lesung Smash the control machine im Rahmen der Ausstellung Accomplices IV: I show your Mind. Eine Ausstellung in Paranoia im Hole of Fame.)


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