Zug in Sachsen

Zug in Sachsen 

Das dumpfe Dröhnen der Regionalbahn kann unerträglich werden, wenn man vom Restalkohol noch ganz vermodert ist. Früher bin ich noch sehr oft Zug gefahren und versuchte in diesen Zuständen geistiger Empfindsamkeit immer ein bisschen zu schlafen. Wenn ich dann die Augen öffnete, merkte ich oft erst an den sich ändernden Ortsnamen, dass ich in eine Art Dämmerschlaf gefallen war. 



Ein Kind und ihre Mutter steigen ein und setzen sich mir schräg gegenüber. Ich bin sofort hellwach, denn die beiden haben eine Aura, die mich nervös macht. Ich kann mich plötzlich nicht mehr entspannen. Es ist mir unangenehm in ihrer Nähe zu sein. Vor allem die Mutter macht mich fertig. Sie ist grob und lieblos und spricht die ganze Zeit nur Verbote aus. Ihre Tochter macht anscheinend alles falsch. Sie ist scheinbar selbst der Fehler. Das Mädchen darf sich nicht umdrehen. Sie darf die anderen Fahrgäste nicht ansehen, nicht mit den anderen Kindern in Kontakt treten. 

Plötzlich schreit das Mädchen – es ist ein schrecklicher, markerschütternder Schrei. Laut und verzweifelt. Die Mutter reagiert gar nicht erst. Sie ist die täglichen Schreie wohl schon gewöhnt.

Dann fragt das Kind: »Warum sind wir eingesperrt?« Dann umarmt sie ihre Mutter. 

Die Mutter antwortet nicht. Dann kämmt das Mädchen den Schweif ihres rosa Glitzerponys, kämmt so lange bis ihr die rosa Polyesterhaare ausfallen. Dann weint sie und schlägt sich selbst die Hände ins Gesicht. Sie schlägt so stark zu, das ein dumpfes Klatschen zu hören ist – auch meterweit entfernt. Dann sieht sie wieder nach hinten zu dem anderen Kind, zu dem sie keinen Kontakt aufnehmen darf. Das Kind gehört zu der nächsten, womöglich alleinerziehenden Mutter. Sie ist etwa zwanzig Jahre jünger als die fette Qualle mir schräg gegenüber. Ihre Haut ist von Kratern ausgedrückter Crystalpickel übersät, die sie fachmännisch mit einer Wagenladung Schminke zubetoniert hat. 

Sie tippt die ganze Zugfahrt irgendetwas in ihr Handy. Sie kann ihren Blick einfach nicht davon lösen. Sie ist sichtlich nervös – nervöser noch als ihr nervöses Kind, das sie liebevoll »Stinki« nennt. Sie sieht es niemals an, spricht aber – genauso wie die Dicke – die ganze Zeit Verbote aus. Das Kind steht auf und will sie umarmen. Sie schubst es weg und sagt, es solle sich hinsetzen, solle die Schnauze halten. 

Das Kind will auf ihren Schoß klettern. 
Sie sagt: »Nein!« 
Sie sagt: »Setz dich – hin!« 
Sie sagt es immer und immer wieder. 
Sagt: »Nein!«, »Nein!«, »Nein!«, »Setz dich!«, »Nein!«, »Setz dich!« 
Gebetsmühlenartig. Das Kind wird immer unruhiger und fängt an zu weinen. Die Mutter verbietet es ihr. »Nein!«, »Nein!«, »Nein!«, sagt: »Setz – dich – hin!« 

Mechanisch wie eine springende Schallplatte und ohne von ihrem Handy aufzusehen. Das Kind will ihre Mutter umarmen. Die Mutter verbietet es ihr. Sie verbietet es ihr einfach, ihre Mutter zu umarmen. Das Kind soll stillhalten. Einfach nur stillhalten. Und die Mutter tippt weiter auf ihrem Handy und merkt nicht, dass ihre Tochter innerlich stirbt. 

Ich halte es nicht länger aus. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich muss weg. Einfach nur weg und überlege, ob ich irgendetwas sage. Ich suche aber erst die Toilette auf. Als ich zurückkomme, sind die beiden verschwunden. Andere Fahrgäste sind zugestiegen. Ein junges Pärchen; beide Mitte zwanzig.

Der Typ sagt die ganze Zugfahrt lang kein einziges Wort zu ihr. Geschlagene anderthalb Stunden später, dann aber einfach so aus heiterem Himmel heraus, fängt er plötzlich an von seinem Computer zu quatschen. Von dem dunklen Bildschirm, der kaputten Grafikkarte und dass der Computer selbst glaubt, wie er sagt, dass alles in Ordnung sei. 

Das alles sagt er so, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. Dann hört er plötzlich wieder auf und hält die Schnauze. Die ganze restliche Zugfahrt lang – und sie auch. 

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