»Wir sollten uns nicht in ein stummes Volk verwandeln«
»Wir sollten uns nicht in ein stummes Volk verwandeln«
Im Gespräch mit Marina Münkler über den Sprachgebrauch, Victor Klemperer und die Flüchtlingsdebatte
In ihrem aktuellen Buch »Die neuen Deutschen«, das sie zusammen mit ihrem Mann, dem Historiker Herfried Münkler, geschrieben hat, analysiert Marina Münkler recht kühl die derzeitige gesellschaftliche Situation und zieht Schlüsse aus der Geschichte, um diese Erkenntnisse in praktische Handlungsanweisungen einmünden zu lassen. Ich habe die Autorin und Professorin für Ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der TU Dresden getroffen, um mich mit ihr unter anderem über Victor Klemperer, Sprache und Denken, die Haltung von Medien in der Flüchtlingsdebatte sowie über die Normierungsversuche von Sprache zu unterhalten.
Foto: TU Dresden. |
In »LTI« verwendet Victor Klemperer bewusst einen empirisch-narrativen Stil. Ist sein Werk dennoch auf einige wenige Kernaussagen herunterzubrechen?
Es gibt schon ein paar Kernaussagen, die man benennen kann: Zum Beispiel, dass Sprache und Herrschaftsformen meistens nicht unabhängig voneinander sind, sondern dass Sprache eine sehr große Rolle spielt, weil sie sich so tief in die Kultur einschreibt und viele Leute einen Sprachgebrauch haben, von dem sie gar nicht wissen, wie zutiefst politisch er durchtränkt ist; auch von Hass und von Ausgrenzung Anderer durchtränkt ist. Und das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Aspekt bei Klemperer.
Beeinflusst das Denken eher die Sprache? Oder die Sprache eher das Denken?
Grundsätzlich kann man sagen: Sprache spricht. Man wächst ja in einer Sprache auf, man lebt in einer Sprache und alles, was man sagt, ist etwas, dessen Sinngehalt man nicht selbst bestimmt. Sondern man benutzt immer nur etwas, das bereits einen Sinngehalt hat. Das heißt, man partizipiert immer an diesem Sinngehalt durch Sprachgebrauch. Das ist auch eine der wichtigen Grundlagen von Klemperers Überlegungen, dass man durch Sprachgebrauch schon an bestimmten Denkmustern partizipiert. Wenn bestimmte politische Gruppierungen nun einen bestimmten Sprachgebrauch bewusst wieder aufrufen, dann kann man daraus schlussfolgern, dass sie durchaus das Ziel haben, ein solches Denken über die Sprache wieder einzuführen. Das heißt, es gibt eine Wechselrelation zwischen Sprache und Denken. Es ist nicht einfach das Denken, das die Sprache hervorruft, sondern die Sprache prägt das Denken und taucht dann natürlich im Denken auch wieder auf, als bestimmte Vorgabe, Dinge wahrzunehmen. Deshalb kann man durchaus von einem Wechselverhältnis sprechen.
Klemperer notierte in seinen Tagebüchern nach Kriegsende, dass er auch ein Buch über die Sprache im Sozialismus schreiben wolle: »LQI – Lingua Quarti Imperii«, also die Sprache des Vierten Reichs. Welche Beobachtungen würde er heute machen?
Er würde sicher die Beobachtung machen, dass es eine solche einheitliche Sprache nicht mehr gibt. Man kann sicherlich nicht sagen, dass heute wie dies im Nationalsozialismus der Fall gewesen ist – und wie es in Teilen vielleicht auch für die DDR gegolten haben mag – bestimmte Sprachgebrauchsmuster die gesamte Gesellschaft durchdringen. Wir haben vielmehr einen Streit um Sprache. Streit um Sprache und Sprachverwendung ist durchaus kennzeichnend für Gesellschaften, aber je totalitärer sie sind, desto stärker versuchen sie, die Sprache zu normieren. Was man jetzt beobachten kann, sind Versuche von einzelnen Gruppen, Sprache zu normieren.
Sie sprechen jetzt von den Rechtspopulisten. Diese wiederum unterstellen aber auch der Regierung oder den sogenannten »Systemmedien« die Sprache zu normieren. Ist das so?
Zweifellos findet man Versuche der Sprachnormierung, die sicherstellen wollen, dass verletzender Sprachgebrauch vermieden wird. Das ist freilich eine ganz andere Form der Sprachnormierung als diejenige, die Klemperer als Sprache des Nationalsozialismus beschreibt. Und es ist auch eine ganz andere Form als die jetzt von Rechtspopulisten propagierte, die versuchen, auf den nationalsozialistischen Sprachgebrauch zurückgehende verächtlich machende Termini wie „Systempresse“, „Systemmedien“ etc. wiederzubeleben.
Welche Rolle spielten Ihrer Meinung nach die Medien bei der Wahrnehmung der Flüchtlingskrise?
Eine durchaus nicht ganz unproblematische Frage, denn »die Medien« gibt es so natürlich gar nicht. Es gibt unterschiedliche Medien und es gibt auch unterschiedliche Beschreibungen. Aber dass beispielsweise von rechts behauptet wird, man hätte bestimmte Dinge einfach gar nicht sagen dürfen, ist bei einem genaueren Blick, vor allem auf die Zeitungslandschaft, überhaupt nicht übertragbar. Ich finde zum Beispiel, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) eine extrem kritische Position gegenüber dem Zustrom von Flüchtlingen eingenommen hat. Gegenpositionen innerhalb der Redaktion konnte man ab einem bestimmten Zeitpunkt kaum noch finden. Grundsätzlich ist es eines der wichtigsten und positiven Kennzeichen der FAZ, dass sie zu unterschiedlichen Fragen ein breites Meinungsspektrum repräsentiert. In der Flüchtlingsfrage war jedoch ein bestimmter Teil dieses Spektrums, und zwar ein gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen sehr kritischer, überaus dominant, nämlich dass die Situation besorgniserregend sei, dass die Flüchtlinge aufgrund ihrer Herkunft nicht integrierbar seien, dass sie uns nur Probleme machten und diese Probleme nicht gelöst werden könnten. Das war eine sehr dominante Position. Natürlich gab es auch linksliberale Zeitungen, die das anders gesehen haben. Aber wenn die Dominanz des Themas auch in den Fernsehmedien betrachtet, dann muss man sagen, dass der Tenor, glaube ich, mehrheitlich eher negativ war.
Worin liegt die Ursache, dass vor allem viele AfD-nahe Menschen kaum einen Unterschied machen zwischen Medien und Politik?
Das ist eine spezifische Folge des Populismus und eines seiner klassischen Kennzeichen. Dass, was ich schon über den Sprachgebrauch gesagt habe, nämlich sich grundsätzlich gegen »das System« zu wenden und so zu tun, als gäbe es bis auf die AfD keine alternativen politischen Parteien, als würde damit eine Form der »Vermainstreamung« alles in eine bestimmte Richtung zwingen, ist eine typische Behauptung der AfD. Das ist aber mitnichten so. Politik und Medien vertreten keineswegs einheitliche Positionen. Es ist überhaupt kein Problem, sehr viele unterschiedliche Stellungnahmen und Kommentare zu finden. Man muss sie nur zur Kenntnis nehmen. Aber es generiert natürlich ein viel geeigneteres Feindbild für den Populismus, wenn man sagt: »Alles andere ist eine aufgezwungene Einheit und wir sind die Einzigen, die dagegen sind.« Das schreibt einem selbst Exklusivität zu. Auch stellt man sich so dar, als hätte man die einzig korrekte Wahrnehmung der Realität und als verkörpere man, obwohl man nur eine Minderheit ist, so etwas wie die stille Mehrheit dieser Gesellschaft. Die Position »Wir verkörpern das Volk« ist kennzeichnend für den Populismus.
Wie kommt es überhaupt, dass gerade die Rechtspopulisten – auch schon zu Klemperers Zeiten – sich so gerne auf das Volk berufen?
Das Volk ist ja eigentlich ein Phantasma, mittels dessen eine große Gruppe von Menschen, die unterschiedliche Vorstellungen und Interessen haben, als Einheit dargestellt wird. Diese Einheit ist natürlich eine Fiktion. Mit dieser Fiktion lässt sich aber extrem gut arbeiten, weil man dann ja immer sagen kann, man vertrete eine Einheit oder zumindest die große schweigende Mehrheit. Dieser Einheitlichkeitsgedanke, wonach alle Menschen in Wirklichkeit das gleiche denken würden und die gleichen Vorstellungen und Interessen hätten, ist ganz offensichtlich totalitär.
Was haben die AfD oder AfD-nahe Internet-User davon, wenn sie im Netz kontinuierlich Misstrauen sähen und der Integrationspolitik damit entgegenarbeiten?
Wenn man die Integration nicht will, dann hat es natürlich sehr viel Sinn, sie zu behindern, weil es die eigene Position ja bestärkt und bestätigt und man dann sagen kann: »Die Integration funktioniert nicht.« Je mehr Pessimismus hinsichtlich der Integrationsfähigkeit in der Gesellschaft herrscht, desto schwieriger wird die Integration. Und auf die zu Integrierenden wirkt das ebenfalls negativ. Menschen, die sich permanent abgelehnt fühlen, entwickeln ihrerseits Ressentiments und Ablehnung. Das ist nicht verwunderlich.
Kann man etwas gegen diese Mechanismen machen und auch dieser Verrohung der Sprache etwas entgegensetzen?
Das glaube ich schon. Man kann ja zum Beispiel demonstrieren, dass man auch ganz anders mit Menschen umgehen kann. Man kann auch zeigen, dass »Hate Speech« keine natürliche Art der Sprache ist. Dagegen kann man durchaus argumentieren und die Frage stellen, ob es ein angemessenes Selbstbild einer Gesellschaft sein kann, auf andere vorwiegend mit Ablehnung und Ausgrenzung zu reagieren. Eine solche Gesellschaft, in der man anderen mit Ablehnung und Hass begegnet, traut sich ja auch nicht zu, andere Menschen zu integrieren. Denn Integration ist ja nicht nur eine Frage der Mittel, sondern auch eine Frage der Zuversicht, dass man so etwas kann. Es ist auch die Frage, ob man glaubt, dass die eigene Gesellschaft so attraktiv ist, dass sich viele integrieren und so leben wollen wie wir. Da habe ich eigentlich ein sehr großes Zutrauen. Man darf in diesen Prozessen natürlich nicht einen Fehler nach dem anderen machen. Es wirft ein sehr merkwürdiges Bild auf unser Selbstverständnis, wenn man eigentlich immer nur kommuniziert: »Wir wollen nicht, wir können nicht. Es geht auch nicht.« Was sagt das über das Bild von der eigenen Gesellschaft aus? Man traut sich nichts zu. Man ist nicht überzeugt von sich. Und man glaubt, die einzige Weise, wie man sich schützen könne, sei, dass man anderen mit Ablehnung entgegentritt.
Susanne Dagen verwendet in ihrer Charta 2017 das Wort »Gesinnungsdiktatur«. Sie sieht die Meinungsfreiheit eingeschränkt und benutzt die Formel »Wehret den Anfängen!« Wie beurteilen Sie die dabei verwendete Wortwahl?
Die Rede von der Gesinnungsdiktatur ist lächerlich. Es ist ja ganz offensichtlich, dass Rechtspopulisten ihre Meinung äußern können. Im Grunde genommen kann man sogar sagen, im Internet ist es ihnen gelungen, ziemlich dominant zu werden. Es ist der Effekt einer negativen Sprache, dass sie Aufsehen erregt und dass es relativ leicht ist, sich ihrer zu bedienen. Das ist ja auch viel einfacher als zu differenzieren. Das führt dann dazu, dass man zumindest in gewissen Foren eine Dominanz herstellen kann. Von einer Gesinnungsdiktatur kann überhaupt keine Rede sein, denn die Rechtpopulisten haben ihre eigenen Journale, sie haben ihre eigene Presse und niemand kann es ihnen verbieten. Zu behaupten, sie würden von einer Gesinnungsdiktatur unterdrückt, ist eine Form der Selbststilisierung als Opfer und nichts Anderes. Dass man nicht für jede x-beliebige Meinung von jedem Anerkennung bekommen kann, ist ganz normal. Das ist eins der Kennzeichen des demokratischen REchtsstaats, der selbstverständlich unterschiedliche Meinungen zulässt, und das heißt auch, dass man nicht zwangsläufig deren Meinung teilen muss. Das war ja auch der Grund für den Aufruf gegen die »Charta 2017«.
»Wehret den Anfängen!« gehört zu den eher perfiden Formen des Sprachgebrauchs. Diese Wendung ist üblicherweise für all jene sprachlichen Äußerungen gebraucht worden, die eine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus aufgewiesen haben. Wenn Rechtspopulisten das jetzt benutzen, dann versuchen sie sich einen Sprachgebrauch anzueignen, der eigentlich eher auf sie selbst angewendet werden würde. Auf diese Weise wollen sie markieren, dass sie die Freiheit verteidigen. Das stimmt aber nicht. Das sieht man, wenn sie Worte wie »Systempresse« oder »Systemparteien« verwenden. Das sind alles Ausdrücke, die in der Weimarer Republik von Rechtspopulisten und insbesondere den Nationalsozialisten gebraucht worden sind.
Bei vielen Leuten, die in der DDR gelebt haben, klingeln die Alarmglocken, wenn auch nur der Hauch von Repression in der Luft liegt. Wie wirkt heute noch das DDR-Regime?
Ich würde höchstens so weit gehen, dass das insofern etwas mit dem DDR-Regime zu tun hat, als dieses zweifellos versucht hat, die Sprache zu normieren. Deshalb wirken Behauptungen, die eigene Meinungsäußerung würde unterdrückt, vielleicht glaubhafter. Aber alles in allem glaube ich, dass das viel mehr mit dem Ende der DDR zu tun hat. Zunächst mit der Unmöglichkeit, seine Unzufriedenheit öffentlich ausdrücken zu können –da gab es sicherlich ein Repressionsproblem – zum anderen aber auch mit den Degradierungserfahrungen, die viele nach dem Ende der DDR gemacht haben. Es gab ja aberwitzige Versprechungen von den blühenden Landschaften in fünf Jahren. Das hat alles nicht funktioniert. Die neuen Bundesländer sind ökonomisch betrachtet durch ein sehr tiefes Tal gegangen. Dann haben viele Menschen beobachten müssen, wie zahlreiche Führungspositionen von Leuten aus dem Westen besetzt wurden. Das hat den Leuten nachvollziehbar sehr zu schaffen gemacht. Das ist dann mit Pluralität, Meinungsfreiheit und Demokratie zusammengekommen und diese Kombination hat bei vielen Menschen ein Misstrauen dagegen ausgelöst. Die Auswirkungen sah man zum Beispiel daran an der geringeren Wahlbeteiligung im Osten, obwohl man eigentlich hätte erwarten müssen, dass sie jetzt alle begeistert hätten sein müssen, endlich wählen zu können; und zwar wirklich wählen. Dass dies so nicht eingetreten ist, hat vermutlich sehr viel mit Degradierungserfahrungen zu tun und dem Gefühl, irgendwie um die Hoffnungen, die man mal hatte, betrogen worden zu sein. Das ist sehr gut nachvollziehbar. Schwierig wird es nur, wenn sich das dann nicht als das artikuliert, was es eigentlich sein müsste; nämlich als Unzufriedenheit mit gegebenen ökonomischen Versprechen, sondern sich dann gegen die Demokratie selbst richtet.
Wie haben Sie als Zugezogene die Erinnerungskultur um den 13. Februar wahrgenommen?
Recht problematisch. Die ersten Jahre, in denen ich hier war, bin ich immer zu den Protesten gegen die – damals noch von der NPD angeführten Demonstrationen – gegangen und deren Versuch, Dresden zu einer Opfergemeinschaft zu stilisieren. Auf diesen Gegendemonstrationen ist ja auch unser Rektor als Veranstalter aufgetreten. Spätestens 2014 hatten wir das Gefühl, diese Auseinandersetzung gewonnen zu haben. Wir dachten, das Gedenken am 13. Februar ist jetzt nicht mehr von der NPD dominiert, weil es so viele Gegendemonstranten gab, die gesagt haben, dass man um die Opfer trauern kann, aber es nicht angeht, dass man diesen Tag zu einer Bühne für rechte Umtriebe macht. Das ist aber mit Pegida im darauffolgenden Jahr wieder ins Wanken geraten.
Warum haben Sie den Aufruf gegen die Charta 2017 unterschrieben?
Mir war es sehr wichtig, etwas dagegen zu sagen. Ich bin überhaupt nicht dafür, dass irgendjemand irgendwem den Bücherstand demoliert. Ich bin auch nicht dafür, dass Sachen beschädigt werden. Aber es muss die Möglichkeit der Auseinandersetzung geben, ohne dass die eine Seite penetrant behauptet, sie könnte ihre Meinung nicht äußern. Man kann sie sehen, man kann sie hören. Und die Behauptung des Gegenteils empfand ich als eine so falsche Darstellung, dass ich dachte, dazu muss man eine Gegenposition beziehen.
Was sagen Worte wie »Gutmensch«, »Mainstreammedien« oder »alternative Fakten« generell über Menschen aus, die solche Begriffe verwenden?
Dass sie entweder einen Sprachgebrauch haben, durch den sie sich als Opfer stilisieren, oder dass sie andere mit Begriffen wie »Gutmensch« als dumm und naiv herabwürdigen wollen. Daneben ist es der Versuch, sich selbst zu einer Art Avantgarde zu machen, die das stumme Volk in seiner Einheitsfiktion hinter sich hat. Deswegen sollten wir uns auch nicht in ein stummes Volk verwandeln.
Warum wirkt das Fremde eigentlich immer so bedrohlich?
Es gibt so etwas wie Ethnozentrismus, also die Vorstellung, dass die eigene Ethnie nicht nur das Übliche, sondern das Richtige verkörpert. Ich habe mich sehr lange und intensiv mit der Auseinandersetzung mit dem Fremden im Mittelalter beschäftigt, wo man das durchaus auch findet. Allerdings gibt es gegenüber dem Fremden nicht nur eine Abgrenzungsbewegung. Vielmehr wird ihm in der Regel in einer Mischung aus Furcht und Faszination begegnet. Und es gibt auch Lernbereitschaft. Das ist ganz interessant. Ein franziskanischer Reisender des 13. Jahrhunderts erzählte einmal, wie er zum ersten Mal Kumys getrunken habe (vergorene Stutenmilch, Anm. d. Redaktion), das Nationalgetränk der Mongolen. Er sagte, beim ersten Mal hätten ihm die Haare vor Ekel zu Berge gestanden und der Schweiß sei ihm heruntergelaufen. Aber nach einiger Zeit habe er gelernt, dass es sich um ein wohlschmeckendes und sehr bekömmliches Getränk handele. Die Fähigkeit, sich auf das Fremde einzulassen, ist eine immer wieder anzutreffende, ganz genuine Fähigkeit des Menschen. Ebenso aber auch, das Fremde abzulehnen. Wenn es gut läuft, entwickelt sich ein Ausgleich zwischen diesen beiden Positionen, indem man zur Kenntnis nimmt, dass es andere Lebensgewohnheiten gibt, von denen man sagen kann, das sind nicht die unseren, aber letzten Endes können wir das ganz gut akzeptieren, weil sie uns nicht schaden. Denn sie gefährden ja nicht unsere eigene Identität. Das ist eines der Dinge, die mich sehr wundern, nämlich die Vorstellung, die Konfrontation mit dem Fremden würde unsere eigene Identität gefährden. Das kann man nur denken, wenn man selbst eine sehr fragile Vorstellung von seiner eigenen Identität hat. Wenn man die nicht hat, dann kann es einem ziemlich egal sein, ob jemand Schweinefleisch isst oder nicht. Was ich tue, ist davon ja völlig unabhängig. Entscheidend ist, dass Gesellschaften eigentlich immer Fremde integrieren konnten und diejenigen, denen das gut gelungen ist, waren immer die am weitesten fortgeschrittenen Gesellschaften. Wenn man sich selbst diese Fähigkeit nicht mehr zutraut, dann hat man ein Problem.
In Ihrem Buch »Die neuen Deutschen«, das Sie zusammen mit Ihrem Mann Herfried Münkler geschrieben haben, analysieren Sie nüchtern die derzeitige Situation und ziehen Schlüsse aus der Geschichte. Doch trifft das Buch in rechten Kreisen auf Empörung, die Ihnen unter anderem ein systemkonformes Verhalten unterstellen. Woran liegt das?
Nun gut, das wundert mich nicht. Wir haben das Buch ja in einer Zeit geschrieben, als es schon eine enorm hasserfüllte Debatte gegeben hat, in der die Ablehnung von Flüchtlingen bereits fundamental gewesen ist. Wir dachten, wir müssten einen Beitrag dazu leisten, der einen gelasseneren Blick vermittelt. Es war ja mitnichten die einzige »Flüchtlingskrise«, die wir gehabt haben – wenn man es denn als eine Krise bezeichnen will. Und natürlich ist die Aufnahme von 890.000 Menschen in einem Jahr eine logistische und auch eine soziale Herausforderung. Nur muss man ja nicht vor jeder Herausforderung gleich zurückschrecken …
Könnten Sie die Kernthesen aus Ihrem Buch einmal kurz zusammenfassen?
Zunächst einmal sind wir ein Land, das Zuwanderung braucht, auch schon aus demografischen Gründen, denn wir sind eine alternde Gesellschaft. Und selbst wenn die Geburtenrate stiege, würde dies nicht mehr ausgleichen, was uns aus früheren Generationen fehlt. Zuwanderung ist für uns also sehr wichtig. Dafür hätten wir eigentlich schon seit Jahren ein Einwanderungsgesetz haben müssen, das hatten wir aber nicht. Vielleicht wird sich das ja in den nächsten Jahren ändern. Jetzt hatten wir eine gewaltige Zuwanderung und zwar in den Altersgruppen, die auch noch sehr gut passen würden. Das heißt, wir müssen jetzt alles dafür tun, damit diese Menschen integriert werden können, Lücken auffüllen und damit auch selbst hier ein erfülltes Leben führen können. Denn sie einfach nur aufzunehmen und sie dann in Aufnahmeeinrichtungen sitzen zu lassen, wo sie dann sehen können, wie ihr Leben an ihnen vorbeizieht, hilft ihnen ja weder ihnen noch uns. Man muss sagen: »Okay, ihr seid jetzt in unserer Gesellschaft. In unserer Gesellschaft gibt es bestimmte Anforderungen. Es gibt bestimmte Erwartungen und die könnt ihr auch lernen.« Kennen lernt man Kultur ja nur durch Teilhabe. Man lernt sie nicht dadurch kennen, dass man irgendwo untergebracht ist und sonst nirgendwo integriert wird. Kulturen sind, so kann man sagen, wie Eisberge. Das, was man von einer Kultur sieht, ist nur die Spitze eines Eisbergs. Es gibt ganz viel darunter, was kulturelle Selbstverständlichkeiten sind, die man erst durch das miteinander Leben, durch Teilhabe erkennt. Dafür gibt es auch keine uniforme Handhabe. Dass man als Zuwanderer erst einmal versteht, wie diese Gesellschaft funktioniert und welche Möglichkeiten es gibt, an dieser Gesellschaft teilzunehmen, das ist die zentrale Aufgabenstellung. Das zu ermöglichen, muss unserer Meinung sehr rasch erfolgen. Es gibt dafür ganz wunderbare Initiativen, da ist das schon geschehen, aber eben nicht überall und nicht überall in gleicher Weise. Unsere Vorstellung war – deshalb haben wir das Buch ja auch »Die neuen Deutschen« genannt – dass nicht alle da bleiben können und viele auch gar nicht dableiben wollen, aber dass es einen großen Teil von Menschen gibt, die hier ihre neue Heimat finden werden und dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist, tatsächlich alle Menschen zu integrieren und auch zu Deutschen zu machen, die es wollen. Es geht aber auch nicht nur um die Zuwanderer, sondern ebenso um die Deutschen, die für sich begreifen, dass wir hier eine große gemeinsame Aufgabe haben und dass wir diese auch nur zusammen bewältigen können. Das kann man nur durch viele kleine Dinge machen; zum Beispiel mal ein Kind aus einer Zuwandererfamilie aus dem Kindergarten nach Hause einladen. Entscheidend ist, dass wir unsere Kultur den Zuwanderern vorleben und ihnen zeigen, dass diese auch ein freundliches Gesicht haben kann.
Sie halten wahrscheinlich nichts von Huntingtons Theorie des »Clash of Civilisations«?
Diese Theorie ist in ihrer Allgemeinheit zu stark vereinfachend und man muss aufpassen, dass man nicht auf Feindsetzungen, die es natürlich – beispielsweise von Islamisten – gibt, nicht mit Feindsetzungen reagiert. Denn der Islam besteht nicht nur aus Islamisten. Dies ist nur eine verschwindend kleine Minderheit. Sie ist zweifellos gefährlich, gefährlich aber ist sie zunächst einmal für Muslime, weil die ja in erster Linie unter deren Terror zu leiden haben. Und wenn wir versuchen den Islam zu homogenisieren und sagen, alle Muslime wären insgeheim Terroristen und ihnen mit tiefem Misstrauen begegnen, sorgt das nur dafür, dass wir den wirklichen Islamisten in die Hände spielen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Marina Münkler studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt/M. Ihre Promotion zum Thema »Erfahrung des Fremden« schloss sie 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin ab, wo sie 2007 auch habilitierte. Nach Gastprofessuren in Berlin und Zürich wurde sie 2010 nach Dresden ans Institut für Germanistik berufen. Marina Münkler forscht unter anderem zu den Themen »Erfahrung des Fremden« sowie »Kommunikationen und Narrative von Risiko«. 2017 wurde sie in den Wissenschaftsrat berufen.
Literaturhinweis: Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Reinbek bei Hamburg/ Rowohlt 2016. Am 11. Februar findet um 11 Uhr eine Sternlesung zum Todestag Victor Klemperers statt – mit literarischen, politischen und alltäglichen Texten aus 100 Jahren. Orte und genaue Infos dazu unter www.literaturhaus-dresden.de
(Das Interview wurde im Auftrag des Dresdner Kulturmagazins geführt.)