»Ohne Vielfalt wäre unsere Gesellschaft arm«

»Ohne Vielfalt wäre unsere Gesellschaft arm«
Gespräch mit Stephan Pöhler über Inklusion in der Film- und Fernsehbranche

Bereits seit 2005 trägt Stephan Pöhler das Ehrenamt des Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Dabei hat er eine beratende Funktion gegenüber der Sächsischen Staatsregierung inne und setzt sich für eine umfassende und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Sachsen ein. Seine Ziele entwickelt er in enger Zusammenarbeit mit Betroffenen, Organisationen und Verbänden. Ich traf mich mit ihm im Namen des Filmverband Sachsen, um mich über die Rolle der Filmschaffenden und Medienanstalten beim Thema Inklusion im Freistaat auszutauschen.


Sind Sie der Meinung, das Verständnis für Menschen mit Behinderung sei in den letzten Jahren größer geworden?

Ich denke, das Verständnis ist sogar viel größer geworden. Wenn ich den letzten Sachsen-Monitor betrachte, wo die Frage gestellt wurde, ob für Menschen mit Behinderung zu wenig gemacht wird, und die Befragten mit etwa 90 Prozent sagen, dass für sie zu wenig gemacht wird, dann ist das schon ein Stück weit aussagekräftig. Trotz der Kritik, die darin liegt, ist doch das Entscheidende, dass gewisse Denkprozesse in Bewegung gesetzt werden. Denn wenn sich in den Köpfen etwas verändert, ist es meist nur ein kleiner Schritt, dass sich auch in der Praxis etwas ändert. Wenn man sich Filme ansieht oder Talkshows wie „Anne Will“ oder „Maybrit Illner“, dann werden viele von ihnen im Live-Stream mit Gebärdensprache begleitet. Das wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen.

Was glauben Sie, gab den entscheidenden Impuls dafür?

Das kam dadurch, dass die Betroffenenverbände im Zuge der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen auch im Bereich Medien entsprechend Druck gemacht haben. Gleichberechtigte Teilnahme und Zugang zu Medien, die in dem Punkt „Informationsfreiheit“ ja schon im Grundgesetz festgeschrieben sind, hat bei der schrittweisen Umsetzung natürlich geholfen. In anderen Ländern war man zu der Zeit auch schon weiter, was ein zusätzlicher Antrieb war.

Wo sehen Sie Defizite und Potenziale in Film und Medien, was die Darstellung oder die Beschäftigung von Behinderten angeht?

Über die Beschäftigung von Behinderten im Film liegen mir keine gesicherten Erkenntnisse vor. Sicherlich steht aber das Thema noch nicht ausreichend im Mittelpunkt. Was jedoch die Darstellung von Behinderung angeht, gibt es da zahlreiche gute Beispiele, die das Verständnis für Behinderte maßgeblich mitbeeinflusst haben. Ich denke hier zum Beispiel an „Gottes vergessene Kinder“ (1987) oder an den Film von Caroline Link „Jenseits der Stille“ (1996), in denen es um gehörlose Menschen geht. Solche Filme sind vor allem für die Betroffenen sehr wichtig. Mir geht es aber vor allem darum, dass solche Filme, die auch in Sachsen gemacht oder gezeigt werden, seien es Spielfilme oder Dokumentationen, auf derselben Ebene gezeigt werden wie alle anderen Filme. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass wir nicht etwa spezielle Fernsehsendungen brauchen, die von Menschen mit Behinderung handeln oder sich an diese richten. Wir müssen vielmehr einen Schritt weiter gehen und es zur Normalität werden lassen, dass Behinderte in Filmen und Fernsehen auftauchen, ohne dass es zu sehr zum Thema gemacht wird. Sicherlich ist es sehr schön, dass es im MDR die Sendung „Selbstbestimmt!“ gibt, die mit Jennifer Sonntag eine blinde Moderatorin und mit Martin Fromme einen körperbehinderten Moderator haben – oder dass es auch Sendungen gibt wie „Sehen statt Hören“, die sich an gehörlose und schwerhörige Menschen richtet. Wir brauchen das natürlich noch, um uns an Behinderung zu gewöhnen. Aber ich persönlich plädiere dafür, persönliche Schicksale in ganz normale Formate einzubetten. Ich finde es natürlich trotzdem gut, wenn es gelingt, dies auch mit entsprechenden Preisen zu würdigen. Mein Credo ist also, Behinderung in die allgemeine Berichterstattung und Filmproduktionen mit einfließen zu lassen, sodass ersichtlich wird, dass es einfach zur Normalität gehört, dass der eine im Rollstuhl sitzt, ein anderer blind und ein dritter vielleicht gehörlos ist. Ich habe auch das Gefühl, dass gerade bei den Filmschaffenden der Zugang zu Behinderten ein sehr unkomplizierter ist, vor allem auch, weil man dort meistens sehr spannende Themen und Geschichten findet.

Welche Rolle könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk allgemein, speziell der MDR beim Thema Inklusion einnehmen?

Der MDR ist für mich bundesweit Vorreiter in dieser Fragestellung – also bei der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung – mit ihren klaren konzeptionellen Strukturen, mit einer klaren konzeptionellen Ausrichtung. Das ist wohl vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass seit dem Wechsel der Intendanz, mit Frau Prof. Wille, dort sehr klar und sehr konsequent am Thema Inklusion gearbeitet wird. Sie hat extra einen Beauftragten für Inklusion und Barrierefreiheit ernannt. Jedes Jahr gibt es eine große Konferenz mit Frau Prof. Wille, mit Behindertenverbänden, Programmdirektoren, Technikern, mit Vertretern des Rundfunkrates, die das klare Konzept, das sich der MDR erarbeitet hat, immer wieder fortschreibt, wo gezeigt wird, was man erreicht hat und wo es hingehen soll. Ich habe jetzt schon mehrfach an dieser Konferenz teilgenommen und es ist sehr wohltuend, vor allem auch, weil der Dialog mit Betroffenen immer wieder Hinweise bringt, was erneuert und verändert werden muss. Der MDR hat dazu auch einen USB-Stick entwickelt, auf dem alle Maßnahmen der Barrierefreiheit noch mal zusammengefasst sind. Darunter sind auch alle praktischen und technischen Anleitungen zu finden, wie man etwa die angebotenen Programme auch auf seinem Fernseher oder seinem Smartphone richtig einstellen kann. Ein tolles Beispiel hatten wir am 24. Dezember in der Sendung „Weihnachten in St. Petersburg“, die vollkommen barrierefrei war, also mit Gebärdendolmetscher, mit Untertitel, mit Leichter Sprache, mit Audiodeskription.

Sie sind also durchaus zufrieden mit der Arbeit des MDR?

Wir haben einen wunderbaren Partner beim MDR. Allerdings gibt es ein Manko, von dem auch Frau Prof. Wille weiß (sie steht da auch mit ganzer Konsequenz an unserer Seite): Menschen mit Behinderung der Rundfunkanstalten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben keinen originären Sitz im Rundfunkrat, das heißt, diese Personengruppe ist nicht in dem Gremium vertreten, das maßgeblichen Einfluss auf die Programmgestaltung hat. Dafür kämpfen wir. Dafür muss aber erst der Staatsvertrag geändert werden. Ich bin da auch immer im Gespräch mit unserem Ministerpräsidenten. Eine Novellierung des Staatsvertrages ist angedacht und wir versuchen, in diesem Rahmen diese Problematik positiv zu verändern. Es gibt zwar auch die Möglichkeit, über die Landtage zwei Plätze zu besetzen, aber das wäre dann nicht originär. Uns geht es aber darum, konkret benannt zu werden. Wir finden das allein schon deshalb wichtig, weil Menschen mit Behinderung einen so hohen Anteil an der Bevölkerung ausmachen (über 17 Prozent der sächsischen Bevölkerung). Und auch aus der Umstellung der Rundfunkgebühr heraus ergaben sich Veränderungen. Im Zuge dessen müssen ja Menschen mit Behinderung einen gewissen Anteil zahlen. Sie sind also nicht komplett befreit, was sie aber auch in die Lage versetzt, Forderungen zu stellen und dies gerechterweise.

Die Beschäftigung von Behinderten in der Film- und Fernsehbranche ist eher die Seltenheit. Glauben Sie, dass die Einführung einer Quote, so wie es die BBC anstrebt, neue Maßstäbe setzen könnte?

Die BBC ist beim Thema Inklusion generell beispielhaft. Sie hat zum Beispiel auch einen eigenen Gehörlosen-Channel. Da sollten wir auch mal hin. Allerdings bin ich kein Fan von Quotenlösungen, denn sie bedingen auch immer Sanktionen. Wenn zum Beispiel Unternehmen die Quote nicht einhalten, werden Ausgleichszahlungen gefordert, die zwar Menschen mit Behinderung unterstützen würden. Wenn die Quote aber erfüllt wird, würde diese Unterstützung ausbleiben. Ich bin der Meinung, dass Quoten meistens nur eingeführt werden, weil wir etwas im Denken verpasst haben. Aber gerade das Umdenken ist doch das Entscheidende.

Was müsste sich im Denken der Menschen verändern?

Wenn ich das auf eine Formel herunterbrechen müsste, dann würde ich sagen, dass man das sogenannte Defizitdenken beseitigen müsste. Das zweite wäre das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft, ohne dass jemand Abstriche machen müsste. Wir müssen unsere Fähigkeit schulen, zu begreifen, dass die Menschen in ihrer ganzen Vielfältigkeit akzeptiert werden. Denn gerade aus der Vielfalt heraus ist doch etwas Positives abzuleiten. Wenn es keine Unterschiede und keine Vielfalt mehr geben würde, dann wäre unsere Gesellschaft arm.

Was kann der Film zu diesem Umdenken beitragen?

Film ist ein Medium, in dem viel transportiert werden kann. Filme verändern die Menschen im Denken, regen auch zum Nachdenken und Diskutieren an. Sie können auch eine Methode sein, um den inklusiven Gedanken weiter zu befördern. Man könnte da zum Beispiel auch viel anstoßen, was die Schulbildung betrifft und Verbindungen zu Kultus herstellen. Ich führe regelmäßig Gespräche mit den verschiedensten Ministern. Frau Stange als Ministerin für Wissenschaft und Kunst ist zum Beispiel jemand, der mit außerordentlicher Akribie und persönlichem Engagement die Inklusion befördert. Den Bereich Film haben wir im Gespräch mit der Staatskanzlei, die federführend für den Bereich ist, in der Tat noch nicht explizit angesprochen. Das wird aber sicherlich demnächst passieren, auch aufgrund unseres heutigen Gesprächs. Das ist dann quasi der „Auslöser“ dafür.

Vielen Dank für das Gespräch.

Fördermöglichkeiten für Menschen mit Behinderung im Beruf:
Es existieren zahlreiche Möglichkeiten der Förderung, die vom Integrationsamt getragen werden. Je nach Behinderung werden etwa die Kosten für technische Ausstattungen, Betreuungspersonal und Arbeitsassistenzen übernommen. Sollte ein Mitarbeiter aufgrund seiner Behinderung nicht dieselbe Leistung erbringen können wie andere, so können Ausgleichszahlungen beantragt werden. In den meisten Fällen kann die „Aktion Mensch“ weiterhelfen, zunächst aber sollte man die Kontakt- und Beratungsstellen der Behindertenbeauftragten des Freistaates Sachsen aufsuchen. 


(Dieses Interview ist für das Fachblatt AUSLÖSER vom Filmverband Sachsen e.V. entstanden.)

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