»Freiräume als Chance begreifen«

»Freiräume als Chance begreifen«
Dirk Lienigs, Dirk Heths und Olaf Winklers neuester Film
»Wenn wir erst tanzen«

Hoyerswerda steht exemplarisch für das Schicksal zahlreicher Städte im ländlichen Raum, nicht nur im Osten Deutschlands. Ganze Stadtteile sind abgerissen. Man spricht in diesen Fällen von „perforierten Städten“, deren Erscheinungsbild von Brachflächen und leer stehenden Gebäuden gezeichnet ist.

Dieses und alle nachfolgenden Bilder stammen aus dem Film „Wenn wir erst tanzen“.

Das spezifisch „ostdeutsche“ an der heutigen Situation in Hoyerswerda ist vor allem dem demografischen Wandel vor und nach der „Wende“ geschuldet. Die Stadt wurde in den 1950er Jahren als sozialistische Planstadt entworfen, die Wohnraum für die überwiegend jungen Arbeiter des nahe gelegenen VEB Gaskombinats „Schwarze Pumpe“ bieten sollte. In nur 30 Jahren wuchs die Bevölkerung von 7 000 auf 70 000 Bewohner an. Hoyerswerda wurde damit zur „jüngsten Stadt der DDR“. Nach dem Fall der Mauer kam der Ausverkauf. „Schwarze Pumpe“ wurde nach und nach zurückgebaut. Die Arbeitslosigkeit stieg rapide an und die Menschen verließen Hoyerswerda scharenweise.

1991 entlud sich der Frust. Es kam zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Lange Jahre legte sich „eine Glocke der Scham über die Stadt“, wie Filmemacher, Theaterautor und Tänzer Dirk Lienig erzählt. „Viele schämten sich zu sagen, woher man kommt.“

Lienig ist in Hoyerswerda aufgewachsen. Nach seinem Ballettstudium, das er 1988 in Leipzig begann, nach zahlreichen Arbeiten am Theater, beim Fernsehen und vielen Filmprojekten, kehrte er 2009 in die sich entvölkernde Stadt zurück und engagiert sich seitdem in der hiesigen Kulturfabrik (Kufa). Von den ehemals 70 000 Einwohner leben, trotz Eingemeindungen, nur noch etwa 33 000 Menschen hier. Lienig stellte sich die Frage: „Wie gehen denn die Zurückgebliebenen mit der Situation um?“ Was er damals nicht ahnen konnte, war, was er lostreten – welchen Nerv er damit treffen würde.


Gemeinsam mit etwa 70 Laiendarstellern zwischen 7 und 72 Jahren und weiteren freien Mitarbeitern entwickelte Lienig mithilfe der Kufa fünf multimediale Tanztheaterstücke unter dem Namen „Eine Stadt tanzt“. „Schon sehr früh war klar, dass wir die Projektreihe auch filmisch begleiten werden.“ Zusammen mit Dirk Heth und Olaf Winkler produzierte Lienig den dokumentarischen und sehr poetisch erzählten Film Wenn wir erst tanzen. Der Film erzählt die Entstehung des Tanztheaterstücks „Le Sacre du Printemps“, das 2014 im leer stehenden Centrum Warenhaus Hoyerswerda Premiere feierte.

Grundlage für die multimediale Inszenierung ist der gleichnamige Ballettklassiker von Igor Strawinsky. In der Vorlage geht es um ein vorchristliches Ritual, bei dem sich eine junge Frau in einem Opferzeremoniell zum Wohle der Gemeinschaft zu Tode tanzt. „Das Opferthema hat mich sehr interessiert und ich habe mir die Frage gestellt: Was sind denn unsere Opfer, die wir für die Gesellschaft bringen?“ Die nüchterne Antwort darauf ist, vor allem „Lebenszeit“.

In ersten Gruppengesprächen, später bei persönlichen Interviews mit Mitgliedern seiner Kompanie, ging es darum herauszufinden, welche persönlichen Lebenswege seine Tänzerinnen und Tänzer (allesamt Hoyerswerdaer) gegangen sind. „Vielen erging es so, dass sie infolge der ‚Kulturschleusen‘, wie wir es nennen, – also Schule, Ausbildung, Arbeit – persönliche Neigungen, Interessen, Träume und Bedürfnisse aufgeben mussten. Ein Tauschhandel. Geregeltes Einkommen, scheinbare Sicherheit wurden gegen persönliche Wünsche und Träume eingetauscht. Ein Handel, der schleichend und unbemerkt stattfindet, aber tiefe Spuren hinterlässt. Dass Menschen ihren Traum leben können, ist die absolute Ausnahme und hat viel mit Glück und äußeren Umständen zu tun.“

Spannend war es, zu beobachten, wie sich die Menschen während der Erarbeitung des Stücks, mehr noch während der Dreharbeiten, zunehmend veränderten. Sie lernten mit ihren persönlichen Schicksalsschlägen besser umzugehen, sie neu einzuordnen, fingen an, ihr Leben umzustrukturieren. Sie erinnerten sich an ihre früheren Lebensentwürfe und fingen an, sie wieder zu leben.


Wenn wir erst tanzen zeigt, welche Auswirkungen Kultur auf den Menschen haben kann. Dabei bindet Dirk Lienig immer wieder Hoyerswerda in das Projekt mit ein. Er spielt mit der Stadt, macht die Brachen und Orte von Wandlungsprozessen zu Kulissen seiner Inszenierungen. „Die Leute haben um sich geblickt und erkannt, dass die Situation nicht nur in Hoyerswerda, sondern im gesamten europäischen ländlichen Raum ähnlich aussieht. Die Menschen erkannten, dass sie gar nicht die ‚Verlierer‘ der Gesellschaft sind, sondern dass sie Teil und Resultat einer überregionalen Entwicklung, eines gesellschaftlichen Umbruchsprozesses sind.“

Dirk Lienig ist von der Wichtigkeit des Ausbaus soziokultureller Zentren überzeugt, nicht nur im ländlichen Raum. „Soziokultur ist eine Sparte, die demokratisierend wirkt. Hier geschieht etwas. Es braucht vor allem konsequente, flächendeckende, strukturelle Förderung und nicht nur einmalige Projektförderungen.“ Es geht um kulturelle Begegnungsorte – also Orte und Arbeiten, die identitätsstiftend wirken – die gilt es zu stärken und auszubauen. 

Dass von dem Ausbau der Infrastruktur auch die Filmszene profitieren muss, dessen ist sich Lienig sicher. Momentan organisiert er mit Mitgliedern des Netzwerks Lausitzer Filmschaffender eine Filmtour durch die ländlichen Gebiete Ostdeutschlands. Dabei suche er auch nach alternativen Abspielorten jenseits der Kinos. Der Film soll gezeigt werden in Industrieparks, auf Stadtflächen, die vom Umbruch geprägt sind, in Kulturzentren, bei Sommerfesten usw. Dass das ganz besondere Filmerlebnisse erzeuge, spiele dabei natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle. Filme wie Wenn wir erst tanzen hinterlassen beim Zuschauer ein Gefühl der Hoffnung und machen Mut, Neues anzugehen.


Allerdings bringt eine solche Filmtour auch eine Reihe an organisatorischen Herausforderungen mit sich. Viele potenzielle Aufführungsorte werden noch nicht als solche wahrgenommen. Daher sei die Recherche sehr aufwendig und allein kaum zu stemmen. Insbesondere wenn man schon wieder an neuen Themen arbeitet. Das Projekt „Film. Land. Sachsen“ vom Filmverband Sachsen könne dabei neue Maßstäbe setzen und die Aufführungspraxis im ländlichen Raum nachhaltig verändern. Man solle den Strukturwandel nicht immer nur negativ betrachten, gibt Lienig zu bedenken, sondern man müsse die „Freiräume stattdessen als Chance begreifen“.

Weitere Informationen unter:


(Dieser Artikel ist für das Fachblatt AUSLÖSER vom Filmverband Sachsen e.V. entstanden.)

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