Das Leben hinter der Sonnenbrille

Das Leben hinter der Sonnenbrille

Ah ja … dort bin ich ja auch gerade – auf der anderen Seite. Ich erkenne es daran, dass der Joint in meiner Hand zu einem wabernden Wurm wird, der ein glühendes Gebirgsmassiv als Krone trägt – ganz schön detailliert der Scheiß. Ganz schön abgefahren, diese sogenannte Realität.


Ein leises Telefonklingeln ist immer mal zu hören. „Ist das überhaupt noch Musik?“, fragt jemand aus den Tiefen des Äthers. Antworten kann ich nicht mehr. Ich schäme mich ein bisschen, aber man hat Verständnis. Die Leute sind eh alle so dermaßen verballert – wir eingeschlossen. Das Setting ist perfekt. Für jeden Trip ist das richtige dabei und zieht dementsprechend auch die richtigen Leute an. Man kann sich wohlfühlen und gehenlassen. Allerdings bedeutet das im Moment nur, dass man herumsitzt und guckt, wahlweise auch so tut, als würde man tanzen. Wir alle sind Schauspieler – wandelnde Kunstwerke und Kulissen zugleich und in großer Freude darüber, dass die anderen existieren. Von uns wird überhaupt nichts mehr erwartet. Wir sind eben da. Sind nur noch Selbstzweck. Reine Istigkeit, wie es einer dieser Typen mal gesagt hat. Wie hieß der doch gleich? Son Mittelalter-Typ. Ich komm gleich drauf. Na ja, auf jeden Fall keine Erwartungen mehr. Jedenfalls glaube ich das. „Hä? Na klar. Das Telefon ist in der Musik!“ – „Ach so!“ Hab ich das jetzt laut gesagt? Irgendwie fühlte ich mich angesprochen. „Du kannst jederzeit gehen, wenn du dich gestresst fühlst. Die Leute haben dafür Verständnis.“ – „Ich kann aber gar nicht mehr gehen“, sagt sie. Beide lächeln und versuchen sich zu umarmen. Geht aber nicht im Liegen.

Boah! Sind die alle drauf. Jeder ein Teil im Trip des anderen. Besser als jede Halluzination sind doch die Menschen. Ein Anflug von Glückswellen. „Geil!“, denke ich, ein Mann mit einem Shirt, auf dem steht „I took the Red Pill“ geht vorbei. Ich lache. Niemand weiß warum. „Wenn die Orgel, die Königin der Instrumente ist, was ist dann das Soundsystem?“ – „Das einzig gute System!“, gibt er gleich zur Antwort. „Ach ja … stimmt ja.“ Der DJ lenkt die Halluzinationen – so wie in der Kirche, nur dass hier jeder rauchen und entspannt rumliegen darf. Eigentlich viel besser so – tja irgendwie schräg – in der Kirche würde ich mich jetzt irgendwie schuldig fühlen. Hier fühle ich mich aber eher unschuldig. Mein Gegenüber nickt, so als hätte er mich verstanden. Wellen puren Glücks steigen auf. Kurz durchatmen – man kennt es ja bereits. Wir lachen beide. Dem Anderen geht es wohl genauso. Hat aber auch ein bisschen mit der Musik zu tun. Die ist jetzt wieder weniger verklingelt. Ach nee, doch nicht … anderer Floor.

Zum Glück müssen wir nicht singen. Kirchenlieder waren früher die einzigen Lieder, die wir kannten. In fast jedem Lied ging es um ein heiliges Wesen, dem die Menschen gehuldigt hatten. Jetzt sind wir selber die heiligen Wesen. Da müssten wir uns jetzt aber mal ordentlich selber huldigen. Passiert ja auch schon, wenn man was Leckeres isst. Angst, dass uns das göttliche Wesen wehtun kann, haben wir aber immer noch. Allerdings ist hier die Wahrscheinlichkeit geringer als in der Kirche. Scheiße, ich glaube Gott sitzt da drüben. Er hat ein Etikettiergerät dabei. Jeder kriegt eine „42“ auf die Klamotten geklebt. Sich selbst hat er die meisten gegeben. Ist ja auch naheliegend irgendwie. Krass. Sein halber Ärmel besteht schon aus einer zentimeterdicken Schicht dieser kleinen Preisschilder. Jetzt klebt er sie sich auf die Zunge. Oh Mann, diese Leute hier – schön! Einfach schön! – „Gott ist die Liebe – ist das nicht so ein Kirchenlied?“ – „Ja, stimmt.“ – „Eigentlich schon ganz schöner Mist. Ich meine, wenn Gott eh alles ist, warum dann nochmal betonen, dass er die Liebe ist. Ich sag ja auch nicht, Gott ist das Brötchen.“ – „Ist allerdings nicht so eine griffige Hookline.“ – „Stimmt.“ Wir lachen und machen so eine Art Gähnbewegung. 



Mandalas kriechen über den Boden. Die Wolken wiegen sich im Bass. Ganz schön realistisch diese Wahrnehmung. Ganz schön abgefahren. Es könnte die ganze Zeit so sein. Man würde sich wahrscheinlich irgendwann daran gewöhnen. Nur wäre die Gesellschaft wohl eine andere geworden. Oder alles wäre genauso, weil wir alles Überflüssige wieder ausblenden und vergessen würden. Wer weiß?

Aber so?! Das ist doch kein Leben! Es ist viel besser. Nur irgendwie nicht echt, was wiederum gut ist. Fuck! Was ist eigentlich mit dem Typen da unten los? Er stürzt die ganze Zeit wie wild nach vorn und hinten, ohne umzufallen. Ein Strick hindert ihn daran loszulaufen. Ich krieche über den Boden und entscheide mich, zu ihm zu gehen – zu laufen! Puh! Laufen war auch mal einfacher. Geht aber eigentlich wie von selbst. Man darf nur nicht darüber nachdenken. „Wer hat dich denn hier angebunden? Deine Freunde?“ – „Nein Mann, das war ich natürlich selber. Damit ich nicht umfalle! Ist doch klar.“ Er sieht an mir vorbei, als würde er zu jemand anderem sprechen. Ich dreh mich um, damit ich nachsehen kann. Da ist aber niemand. Er schon wieder am Tanzen – oder wie man es nennen will.

Okay, was war das denn? Ich geh wieder zurück und verhalte mich still. Verdammt! Meine Freunde sind weg! Ach nee, die stehen immer noch an derselben Stelle. Nur die Umgebung hat sich verändert. Boah! Sind die Treppenstufen hoch. Wie soll man denn da hochkommen? Na gut, für die anderen sind sie anscheinend auch so ein Problem. So etwas verbindet. Eine richtige Herausforderung, so eine Stufe. Man lernt ja nie aus … meine Freunde haben gar nicht mitbekommen, dass ich weg war. Hat wohl auch nur eine Minute gedauert, aber in der ist ganz schön viel passiert. Sieht schon krass aus, wie der Typ immer wieder umfällt. Na ja – der kommt schon klar. Kennt er wahrscheinlich schon, das Problem. Er konnte ja immerhin noch selbstständig Gegenmaßnahmen ergreifen. 

Gut, dass ich die Sonnenbrille habe, denke ich. Die Leute würden mich sonst für einen Psychopathen halten. Aber letztlich starren die anderen selber auch nur alle in der Gegend herum, grinsen und lecken sich die Lippen, genießen diese Wellen des Glücks. Dann starren sie wieder in eine Leere, die eigentlich gar keine ist, sondern eher das genaue Gegenteil davon. Bäume, die wie kühle Flammen tänzeln. Der Himmel ist aus geometrischen Formen zusammengesetzt. Netzwerke, die sich im Kopf neu verbinden oder auflösen. Überall Menschen, die noch genug Energie haben, um übereinander zu staunen und sich an der Komplexität des Universums zu erfreuen. 

Boah! Augenzoom! So was blendet man auch die ganze Zeit aus. Aber wenn man das mal genauer betrachtet, hat das Auge schon ordentlich zu tun. Mit dem Zoomen und Scharfstellen. Zoomen und Scharfstellen. Zoomen und Scharfstellen. Die ganze Zeit. Schon gut, dass man das ausblendet, denke ich mir. Würde das Leben sonst verdammt kompliziert machen. Und die Sonnenbrillen, die sind eben auch nicht nur ein Schutz vor der Sonne. Gut, dass es die Welten dahinter noch gibt. Gut, dass es Sonnenbrillen gibt.


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