Die FDJ ist wieder da – warum wir die Geister, die wir riefen, nicht wieder loswerden

Die FDJ ist wieder da – warum wir die Geister, die wir riefen, nicht wieder loswerden
Kolumne von Stephan Zwerenz

Eine Idee, erst einmal in die Welt geworfen, wird man so schnell nicht wieder los. Dabei ist es völlig nebensächlich, ob es sich um eine gute oder schlechte Idee handelt. Ähnlich verhält es sich mit Ideologien, die ihr eigenes Scheitern bereits bewiesen haben.

Dieses Bild stammt von Wikimedia Commons.

Dennoch werden sie von manchen Anhänger*innen verherrlicht, indem negative Aspekte der Geschichte einfach ausgeblendet, verleugnet oder umgedeutet werden. Doch was ist so faszinierend an Ideologien und politischen Erzählungen? Und warum kommen sie immer wieder?

Die FDJ ist wieder da

Mehrere Demonstrationen der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) sorgte in den neuen Bundesländern für kollektives Kopfschütteln. Die Jugendorganisation der ehemaligen DDR wurde nämlich wiederbelebt und hat eine Kampagne durch die „annektierte DDR“ geplant, wie es auf der Website der Organisation heißt.

Das Motto der Kampagne lautet „30 Jahre sind genug! Revolution und Sozialismus!“. Durch Zwickau, Rostock, Halle, Eisenhüttenstadt und Jena sind die karnevalesken Revolutionäre bereits mit Fanfaren und Blauhemden gezogen. Mit dabei war natürlich der umgestürzte Trabi, ein paar Arbeiterlieder und die zähnefletschende Hyäne von John Heartfield.

Im Oktober soll das Ganze in Berlin enden. Im dortigen Karl-Liebknecht-Haus hat die FDJ ihren Sitz, was auf den ersten Blick eine Nähe zur Partei Die Linke signalisiert. Diese hat schließlich im selben Gebäude ihre Bundesgeschäftsstelle. Auf Nachfrage versicherte jedoch Linken-Pressesprecherin Sonja Giese, dass die Partei in keinerlei Kontakt zur FDJ stehe. Die FDJ sei dort lediglich nur eingemietet.

Besonders unheimlich wirken die zahlreichen Jugendlichen, die die Inhalte des Sozialismus anscheinend eingetrichtert bekommen haben und mechanisch ihre Losungen wiederholen. Natürlich haben sie die DDR nicht erlebt. Ansonsten würden sie den Staat wohl auch nicht zu einem sozialistischen Wunderland verklären.

Formen dieser Verherrlichung sind meist auch nur durch ausreichend Abstand möglich, um die politische Vergangenheit zum Mythos zu machen. Dabei bewegt sich die FDJ wie alle anderen extremistischen Organisationen in einem juristischen Graubereich.

Im Westen ist die Bewegung bereits seit 1951 verboten. Im Osten jedoch wurde ein Verbot nie ausgesprochen. Daher existierte sie mit wenigen Anhänger*innen auch nach der Wiedervereinigung weiter.

Politische Mythen als Mittel zur Radikalisierung

Dass politische Theorien durch Erzählungen zu Mythen aufgebauscht werden, ist nichts Neues. Tatsächlich ist es ein Phänomen, das sich durch die gesamte Geschichte zieht.

Im Barock und der Renaissance gab es beispielsweise die Gattung der sogenannten „Schäferdichtungen“. Im Zentrum dieser Erzählungen stand ein Goldenes Zeitalter, das meist im griechischen Arkadien verortet war. Natürlich in einer weit entfernten Vergangenheit, in der noch alles gut war.

Arkadien inszenierte sich wahrscheinlich schon sehr früh als das älteste griechische Volk, was eine gewisse politische Autorität aufrechterhielt. Selbst als das Land jahrhundertelang von den Spartanern besetzt wurde, konnte sie ihre Identität durch das aufgebaute Image bewahren.

In der griechischen Mythologie versetzte man die frühen, vermeintlich paradiesischen Zustände meist in ein göttliches Weltzeitalter, aus dem wichtige Königsgeschlechter hervorgegangen sind. Im Christentum wurde dafür der Garten Eden eingesetzt.

Nicht selten ließen mittelalterliche Herrscher Ahnentafel erstellen, die bis in die biblischen Urzeiten zurückreichten. Wahlweise wurde auch eine Abstammung zu bedeutenden Feldherren wie Alexander dem Großen konstruiert. So konnten die Monarchen durch die angebliche Blutsverwandtschaft ihre weltliche Macht legitimieren. Loyale Soldaten stürzten sich freudig in den Tod, weil sie sich auf göttlicher Seite wähnten.

Selbstaufwertung durch Fremdabwertung

Letztlich finden sich Erzählungen dieser Abstammungslehre heute vor allem in rechten Ideologien wieder. Reinrassigkeit soll das eigene Volk zu etwas Besserem erheben. Im Nationalsozialismus wurde das Goldene Zeitalter vor allem in der „germanischen Volksgemeinschaft“ entdeckt, die es wiederzuerlangen galt, obwohl es sie in dieser Form nie gegeben hat.

Moderne Neonazis schließen an diesen Mythos an. Auch in der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ), der „Wiking-Jugend“ (WJ) u.a. werden Kinder und Jugendliche durch mythische Erzählungen, militärischen Drill und politische Ideologie frühradikalisiert.

Prominentestes Mitglied der HDJ war Andreas Kalbitz, der deshalb aus der AfD ausgeschlossen werden sollte. Dass er immer noch Parteigenosse ist, unterstreicht die fehlende Distanzierung der Partei zu der rechtsextremen Gruppe.


Bei Neonazis wird auch das Dritte Reich selbst – bei Reichsbürgern gern auch das Kaiserreich – zum Goldenen Zeitalter verklärt, was natürlich nicht ohne Verleugnung geschichtlicher Tatsachen möglich ist. Soziale Ungerechtigkeit oder politische Verbrechen wie der Holocaust müssen der Erzählung weichen, um ein scheinbar positives Weltbild zu erzeugen.

Dass diese Leugnung von historischen Tatsachen auch die sozialistische Ideologie betrifft, ist relativ neu. Schließlich wurde das Goldene Zeitalter der kommunistischen Revolution immer in die Zukunft verlagert. Allerdings ist die Geschichtsschreibung im Realsozialismus auch immer unter ideologischen Aspekten gedeutet und bewertet worden.

Früher war alles besser

In dem „Früher-war-alles-besser“ zeigt sich bereits eine Vorform des Geschichtsrevisionismus. Das Zurücksehnen zu vergangenen Zuständen, das Bewahren scheinbar idealer Ordnungen ist immer verbunden mit dem Ausblenden negativer Seiten der politischen Realität.

Auf seiner Wahlkampf-Tour 2015/16 prägte Donald Trump den Slogan „Make America Great Again“, den er sich später patentieren ließ, obwohl er ihn eigentlich von Ronald Reagan geklaut hatte. Der beschwor nämlich bereits 1980 die „gute, alte Zeit“, in der man noch einfache Antworten auf komplexe Fragen finden konnte.

Beide erschufen sich durch kluges Marketing eine Erzählung, in der Amerika „großartig“ war – eine typisch konservative Weltanschauung, die nicht mehr erklärt werden braucht. Die Einheit des Volkes und der allgemeine Wohlstand werden als gegeben vorausgesetzt. Obwohl jeder klar denkende Mensch nach kurzem Überlegen zu dem Schluss kommen muss, dass es diesen Zustand niemals gegeben hat.

Die Erzählung dient vor allem dazu, um den gegenwärtigen Zustand herabzustufen. Gleichzeitig wird die Hoffnung geweckt, dass das vergangene Goldene Zeitalter einfach erreicht werden könne. Schließlich ist es schon einmal da gewesen. Wir müssen nur zu früheren Zuständen zurückkehren.

Dieses Heilsversprechen unterscheidet sich kaum von religiösen oder mythischen Erzählungen, die den paradiesischen Zustand an den Anfang und das Ende ihrer Erlösungsgeschichte setzen. Das Prinzip ist so simpel und wirkungsvoll wie ein Werbespot.

Geister der Vergangenheit

Ideologien jeglicher Art scheinen Sinn zu stiften und Orientierung zu geben, indem sie einen Plan vorgeben, der unter allen Umständen eingehalten werden muss. Erst dann könne dieser Logik entsprechend der angepriesene Idealzustand erreicht werden.

Eine Abkehr von diesem Plan ist nicht vorgesehen, auch wenn sich die Umstände ändern oder neue Erkenntnisse dazugewonnen werden. Ideologien versuchen eine Gemeinschaft zu erzeugen, indem sie andere ausgrenzen und herabstufen. Somit teilen sie die Welt in Freund und Feind ein, und verhindern eigenständiges Denken.

Das eigentliche Ziel der Ideologie ist es nämlich nicht, die gegebenen Heilsversprechen auch in die Tat umzusetzen, sondern die Massen zu mobilisieren. Daher wird die Erlösung auch immer wieder in die Zukunft bzw. in die Vergangenheit verfrachtet.

Doch warum überhaupt an Ideologien festhalten und nicht lieber durch ethische Werte und Grundsätze ersetzen?

Günter Gaus schrieb 1949 (wohlgemerkt in einem Abituraufsatz):

„Immer wieder versuchen wir, aus der Geschichte heraus Begründungen für unser gegenwärtiges Handeln abzuleiten. Das ist in der Weise, die wir bisher anwandten, nicht möglich, ja, es kann verbrecherisch werden. Wir müssen endlich einsehen, daß das Grundphänomen, daß etwas geschieht (Geschichte), ewig ist, aber wie und warum etwas geschieht, wandelbar.“ [1]

Demzufolge müsse immer aus dem Hier und Jetzt auf gegenwärtige Umstände reagiert werden, aus einer „geschichtslosen Zeit“ heraus. Unsere Geschichtsbetrachtung müsse ohne die „heldischmonumentalen“ Erzählungen auskommen, ohne die „nationalbetonten“ Gefühle.

Vielmehr solle die Geschichte als Mosaikbild begriffen werden, deren einzelne Elemente der Mensch ist. Die Achtung vor ihm müsse wiederentdeckt werden, denn sein Wert bestimme alle Werte. Nur durch den Verzicht auf „monumentalische Geschichtsbetrachtungen“ (vgl. Nietzsche) könne auf gegebene Umstände vernünftig reagiert werden.

Kritisch und ungeschönt müssen wir auf die Vergangenheit blicken. Nur so werden wir die Geister los, die wir riefen. 

[1] Die Geschichte und wir. In: Günter Gaus: Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen. Berlin: Propyläen. 2004. S.351f.

(aus der Kolumne bei Flurfunk)

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abends in der Huschhalle

Kein Skandal im Sperrbezirk

»Man muss Anfängen wehren, auch wenn diese aus einer vermeintlich richtigen Richtung kommen«