Von der Rätselhaftigkeit des Daseins

Von der Rätselhaftigkeit des Daseins
Gregor Kunz veröffentlicht mit „Look at the Seascape“ den ersten von drei Collage-Romanen

Mit seinem neuen Buch ist Gregor Kunz ein wahrer Geniestreich gelungen. In „Look at the Seascape“ vereinigt der Dresdner Künstler und Schriftsteller 123 Collagen, die in traumartigen Motiven die Geschichte des fiktiven Charakters Kapitän von dem Busche erzählen. Die Vorlagen der geklebten Bilder stammen ausschließlich von Holzstichen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. Kunz hat sie in akribischer Sammelleidenschaft alten Büchern und Zeitschriften entnommen, die er über Jahre hinweg auf Flohmärkten und in Antiquariaten suchte. 


Der erste von drei Collage-Romanen ist nun bei Moloko Print erschienen. Das fertige Gesamtwerk umfasst insgesamt 500 Blätter, an denen Kunz von 2000 bis 2009 gearbeitet hat. Dass das erste Buch erst jetzt erschienen ist, liegt daran, dass der Autor nur schwerlich einen Verlag finden konnte, der das Risiko eingegangen ist, dieses Nischenprodukt auf den Markt zu bringen.

Denn das Buch ist definitiv nichts für Jedermann. „Look at the Seascape“ ist keine Graphic-Novel und hat daher auch keine konkrete Handlung. Vielmehr haben die Bildtafeln emblematischen Charakter. Unter jeder Collage steht ein Sinnspruch, der mitunter selbst Zitat sein kann. Text und Bild formen eine Einheit, die zusammengenommen eine geheimnisvolle Wirkung entfalten.

Allein durch die Bildunterschriften und die Motivwahl wird einen Sinnzusammenhang suggeriert, den der Lesende selbst erschließen muss. Dementsprechend ist das Buch keinesfalls ein einfaches Werk, dennoch geht von ihm eine sogartige Faszination aus und fesselt von der ersten Sekunde an.

Kunz führt mit der Gattung des Collage-Romans eine Tradition fort, die vor allem von Max Ernst begründet wurde. Dieser hat seine erste Collagensammlung 1929 unter dem Titel „La femme 100 têtes“ veröffentlicht. Allerdings wirkten die Motive durch ihren starken Einfluss des Dadaismus zum Teil albern und schelmenhaft. Kunz jedoch gelingt es, ein Werk zu schaffen, dass ganz andere Assoziationen und Gefühle freisetzt. Seine Kompositionen sind düsterer und geradezu epischer Natur, wirken aber ebenso rätselhaft und vielsagend wie die von Ernst.

Die mehrmalige Verwendung gleicher Bildausschnitten erzeugt dabei eine faszinierende Dynamik. Der Leser fühlt sich dazu verleitet Zusammenhänge herzustellen, die nur wenig greifbar sind. Damit entsteht eine Handlung, die allein im Unterbewusstsein des Lesenden stattfindet. „Look at the Seascape“ ist bildgewordene Lyrik, eine Meditation über die Rätselhaftigkeit des menschlichen Daseins.


„Einst hatten die Sportler hier schöne Denkmäler...“

Gregor Kunz schafft eine geradezu kafkaeske Stimmung, die vielschichtige Interpretationen zulässt. Allein der Zusatz des Buchtitels „Kapitän von dem Busche und sein abenteuerliches Leben, erzählt von ihm selbst“, sowie vereinzelte Erwähnungen des Namens erwecken den Eindruck, man habe das Psychogramm eines stilisierten Abenteurers vor sich, der sich durch die Jahrhunderte bewegt. Kunz verrät im persönlichen Gespräch, er wolle einen Bogen von den 1890er bis in die 1990er Jahre schlagen.

Die Busche-Trilogie setze sich daher mit gesellschaftlichen Wirrnissen auseinander, die Folge von politischen, technischen und sozialen Umbrüchen sind. Diesen Verwirrungen werden Elemente des Mythos entgegengesetzt, der laut Hans Blumenberg von jeher dazu gedacht war, Gefühle der Unsicherheit und Fremdheit zu nehmen. Der Mythos gebe Orientierung im Chaos des Weltganzen. Daher ist dem Buch auch ein Blumenberg-Zitat vorangestellt: „Alles Weltvertrauen fängt an mit Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen.“

Kapitän von dem Busche wird damit zum Wegweiser durch die trüben Fahrwasser des menschlichen Daseins. Aus ihm sprechen viele Stimmen, Figuren und Geschichten, wie es auf der Verlags-Website heißt. Auf „Look at the Seascape“ folgen zwei weitere Bände, die vermutlich im Laufe der nächsten beiden Jahre erscheinen werden.

Gregor Kunz: Look at the Seascape. Kapitän von dem Busche und sein abenteuerliches Leben, erzählt von ihm selbst. Band I. Moloko Print: Schönebeck 2019. 138 Seiten. 20 Euro. www.molokoplusrecords.de

(Dieser Text ist für die Dresdner Neuesten Nachrichten entstanden.)


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Die Reise ins Unbekannte
Zu dem Collage-Roman »Look at the Seascape« von Gregor Kunz

Das Meer und die Seefahrt sind seit Urzeiten Metaphern für die menschliche Psyche, den Aufbruch ins Unbekannte, für die Lebensreise des Menschen schlechthin. Der Ozean ist zugleich gebende Urmutter und unbarmherziger Gigant, der Seefahrer für immer verschlingt und unter dessen Oberfläche Ungeheuer hausen. 

Unter diesem Gesichtspunkt muss der erste von drei Collage-Romanen »Look at the Seascape« des Dresdner Künstlers und Schriftstellers Gregor Kunz gelesen werden. Das Buch stellt den fiktiven Charakter Kapitän von dem Busche ins Zentrum einer Erzählung, die eigentlich keine ist. Denn der Collage-Roman hat traditionellerweise keine Handlung. Kunz schließt sich dieser Tradition an, hinterfragt das Prinzip aber durch ein Zitat von Hans Blumenberg, das er dem Werk voransetzt: »Alles Weltvertrauen fängt an mit Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen.« Die Geschichte aber muss vom Leser selbst erschlossen werden. 

„Freud, Fromm, Reich, Jung - alles Unsinn!“
„Freud, Fromm, Reich, Jung - alles Unsinn!“

Eingeteilt in sieben Kapitel präsentiert Kunz 123 Collagen. Sie alle haben den typisch emblematischen Charakter, den man aus vergleichbaren Werken kennt. Den Bildtafeln wird ein meist rätselhaft wirkender Sinnspruch zugeordnet, der mitunter auch Zitat sein kann. Aneinandergefügt ergeben die einzelnen Bild-Text-Einheiten ein Kapitel, das vorgibt in einem Zusammenhang zu stehen. Der Betrachter selbst ist also gefordert, Sinn zu erzeugen und frei zu assoziieren. Nicht umsonst gelten Collage-Romane gemeinhin als nicht interpretierbar. Gregor Kunz bezeichnet seine Arbeitsweise im persönlichen Gespräch daher auch als »Dialog mit dem Material«. Dieser wird im Betrachter weitergeführt. 

Die Vorlagen für seine Collagen hat Kunz in jahrelanger Suche auf Flohmärkten zusammengetragen. Er verwendete dafür ausschließlich Holzstiche aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Früher waren diese die gängigste Illustrationsform in Büchern und Zeitschriften, bis sie durch die Erfindung des Kupferstichs und der Lithografie zunehmend an Bedeutung verloren. Die Motive, die Kunz zu vielsagenden Kompositionen zusammensetzte, haben daher meistens einen fast schon altertümlichen Charme. Der Betrachter sieht die Epochen an sich vorbeiziehen, findet zum Teil groteske Bilder und alptraumhafte Szenerien, die im Unterbewusstsein unerklärliche Mechanismen freisetzen.

Kunz erklärt, dass er in seiner Arbeit auch Parallelen zwischen den 1890er und 1990er Jahre hervorheben wollte. Das seien Zeiten großer technischer und politischer Umbrüche gewesen, die die Menschen in einer gewissen Orientierungslosigkeit und Nicht-Wahrnehmung zurückgelassen haben. Ein Seefahrer, womöglich ein Walfänger, der nicht existiert, ist letztlich eine gute Metapher dafür. Er fährt ins Ungewisse, über die raue See, die sich stets wandelt. Unter ihm die kollektiven Halluzinationen und Trugbilder der Weltgeschehens. Der Kapitän jedoch fährt seinen festgelegten Kurs. Er ist ein Mythos und der nehme laut Blumenberg den Schrecken vor der Welt, indem er dem Chaos eine Ordnung und dem Menschen einen Orientierung gibt. 

Die Folgebände der Busche-Trilogie »Inscape, Orte« und »Escape Vineta« werden voraussichtlich nächstes und übernächstes Jahr erscheinen. Das fertige Werk wird insgesamt 500 Blätter umfassen.

Gregor Kunz: Look at the Seascape. Kapitän von dem Busche und sein abenteuerliches Leben, erzählt von ihm selbst. Band I. Moloko Print: Schönebeck 2019. 138 Seiten. 20 Euro. www.molokoplusrecords.de

(Dieser Text ist für das Dresdner Kulturmagazin entstanden.)

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