EU-Impfpass – Privilegierung der Immunisierten?

EU-Impfpass – Privilegierung der Immunisierten?
Kolumne von Stephan Zwerenz

Die Ankündigung, die 27 EU-Staaten hätten sich auf die Einführung eines einheitlichen Impfpasses geeinigt, löste kontroverse Diskussionen aus. Vor allem in Deutschland kritisieren Skeptiker Gesundheitsminister Jens Spahn, der zuvor immer wieder betonte: „Es wird keine Impfpflicht geben.“

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Nun befürchten Kritiker, die Pflicht zur Impfung komme indirekt durch die Privilegierung der Immunisierten, indem man diesen mehr Rechte einräume. Für diejenigen, die sich ohnehin schon eine „Corona-Diktatur“ herbeihalluzinieren, ist das natürlich eine Steilvorlage, um Spahns Aussage als neue Jahrhundertlüge darzustellen. Walter Ulbricht lasse grüßen.

Auch wenn der Ulbricht-Vergleich natürlich absurd ist, hat die Kritik durchaus ihre Berechtigung. Vor allem EU-Länder, die stark vom Tourismus abhängig sind, wollen mit Hilfe des Impfpasses Reisefreiheit zumindest partiell wieder möglich machen, um ihre Wirtschaft zu stärken.

Die Befürchtung, es komme nun zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft aus Geimpften und Nicht-Geimpften, ist in Wirklichkeit eine Debatte über Freiheit und Pflicht.

Eine Frage der Freiheit


Der Begriff der Freiheit wird in der Politik inflationär benutzt und verkommt daher oft zur hohlen Floskel. Dabei ist der Begriff alles andere als leicht zu definieren.

In der Philosophie findet sich die klassische Unterteilung in eine negative und eine positive Bestimmung von Freiheit. Positiv formuliert, besitzt das Individuum die Möglichkeit, frei zu wählen. Diese Bedingung ist in unserem Falle grundsätzlich erfüllt, da uns offen steht, ob wir uns für oder gegen die Impfung entscheiden.

Die negative Bestimmung von Freiheit bezieht sich eher darauf, dass der Mensch frei von äußeren Zwängen ist (das ist gegeben, weil keine gesetzliche Impfpflicht besteht). Sie schließt aber auch ein, dass sich das Individuum ungehindert bewegen kann.*

Bewegungsfreiheit


Durch den Impfpass nach israelischem Modell scheint es zunächst, als würde die Freiheit des Einzelnen nun zur Pflicht für alle werden, da man sich seine Bewegungsfreiheit durch die Spritze „zurückerobern“ muss. Vorausgesetzt der Einzelne möchte überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Einmal davon abgesehen wie fair oder unfair der Einsatz des Passes in der Praxis schließlich umgesetzt werden wird, läuft die Debatte darauf hinaus, ob die Menschen überhaupt dazu bereit sind, sich impfen zu lassen oder nicht. Das ist bei der geringen Impfbereitschaft in Deutschland ein ernst zu nehmendes Problem.

Die Handlungs- und Bewegungsfreiheit des Einzelnen hängt also direkt von seiner Impfbereitschaft ab. Gerade Impfskeptiker*innen sehen darin eine Beschneidung ihrer Freiheitsrechte. An dieser Stelle wird eine Unterscheidung zwischen gesellschaftlicher und individueller Freiheit sinnvoll.

Individuum und Gesellschaft


Das Individuum hat die Wahl, ob es sich für den Zustand des Geimpften entscheidet. Der Mensch hat damit die volle individuelle Entscheidungsfreiheit, ist aber von gesellschaftlichen Umständen beeinflusst. Tatsächlich ist das immer so und beschränkt sich eben nicht nur auf unser Szenario.

In den Essays „Pyrrhus und Cineas“ und „Für eine Moral der Doppelsinnigkeit“ beschreibt die Philosophin Simone de Beauvoir, dass unsere persönliche Freiheit immer auch die Freiheit der anderen braucht. Das wird gerade auch in der Zeit der Pandemie deutlich. Wir leben in einem Gefüge gegenseitiger Dienstleistungen, die es uns ermöglichen unsere Unabhängigkeit trotz Einschränkungen zu bewahren.

Wer persönliche Freiheit wahrnehmen will, muss Beauvoir zufolge auch zwangsläufig eine große gesellschaftliche Verantwortung auf sich nehmen. Der Mensch ist deshalb zu gegenseitiger Solidarität angehalten, um seine eigene Freiheit und Gleichheit zu bewahren.

Freiheit oder Pflicht


Im Blick auf die Gesellschaft offenbart sich das Gegenteil der anfangs gezeigten Darstellung. Der Impf-Verweigerer schränkt durch seinen Verzicht auf die Spritze nicht nur seine eigene Freiheit ein, sondern auch die der anderen Menschen in seiner Umgebung. Als Ungeimpfter stellt er weiterhin eine Gefahr für seine Mitmenschen dar und zieht das globale Bedrohungsszenario unnötig in die Länge.

Die Impfung ist zwar keine gesetzliche Pflicht, sollte aber vom ethischen Gesichtspunkt her als gesellschaftliche Pflicht verstanden werden (und damit als unverbindlicher Dienst an der Gemeinschaft). Natürlich bleibt die Entscheidung jedem selbst überlassen. Aber auf Grundlage unwissenschaftlicher Argumentation und diffuser Ängste eine ganze Gesellschaft ausbluten zu lassen, ist unverantwortlich.

Die Privilegierten, das sind die anderen


Es bleibt allerdings die Frage, ob die Träger*innen des Passes nun frühzeitig Privilegien wie Reisefreiheit oder Konzertbesuche wahrnehmen dürfen. Auch hier ist eine Horizontverschiebung notwendig.

Diejenigen, die zuerst geimpft werden, dürfen möglicherweise eher am öffentlichen Leben teilnehmen. Die von der Bundesregierung bestimmte Impf-Reihenfolge legt aber fest, dass zuerst die Alten und Kranken immunisiert werden – also diejenigen, die zum Teil ohnehin nur eingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen können.


Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass diejenigen, die später geimpft werden, bereits zu einer privilegierten Schicht gehören. Das bedeutet nämlich, dass man sich zuvor keiner so großen Gefahr ausgesetzt sah wie Risikogruppen, oder auch Pflegekräfte und Ärztinnen.

Ein Verständnis für die aktuelle Situation ist Teil der gesellschaftlichen Solidarität, die uns unsere Freiheitsrechte überhaupt erst ermöglicht.

* Gegensätzliche Darstellungen davon, was die positive und die negative Bestimmung von Freiheit umfasst, haben ihren Grund darin, dass beide Aspekte zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn sich jemand frei bewegen kann, ist er gleichzeitig frei von (negativen) Zwängen, hat aber zugleich auch die (positive) Möglichkeit, sich frei bewegen zu können.

(aus der Kolumne bei Flurfunk Dresden)

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