Im Strom

Im Strom


Am Ende hab ich doch alles richtig gemacht, dachte sich Johnny. Das war eigentlich so wie an jedem anderen Abend. Und auch heute wusste er nicht mehr, wie er in jene Debatte geraten war. Nach drei Bier und zwei Schnäpsen entwickelten sich die Gespräche zu einem reißenden Strom. Jedes weitere Getränk ließ das Gewässer unruhiger werden und mit zunehmender Trunkenheit sprachen alle nur noch wirr durcheinander. Niemand konnte dem anderen folgen. Jeder schüttete seinen unbedeutenden Beitrag in das nicht enden wollende Rauschen, welches sich immer höher schaukelnd in mitunter heftige Gefühlsausbrüche ergoss.

Alle Bilder wurden mit der AI von Stable Diffusion erzeugt.

Das war Teil eines strengen Ablaufs, der sich im Laufe der Jahre so einspielte und mittlerweile durchaus etwas Ritualhaftes an sich hatte. Jeder Handgriff, jede Floskel und jeder Seitenhieb schien mühsam einstudiert zu sein und war zu einer inhaltslosen, beinahe maschinenhaften Geste verkommen, deren Bedeutung für alle Zeiten in Vergessenheit geraten war.

Aus eben jenen Wellen stolperte Johnny plötzlich an den Tisch, sein Handy krampfhaft in der Linken, aufgebracht murmelnd, unverständliche Wortfetzen stammelnd. Ingo hätte den Anfang des Satzes unmöglich verstehen können. Es ist ihm auch völlig egal gewesen.

Da haben die, stell dir vor, mich einfach gesperrt! Mich mundtot gemacht haben die! Guck dir das an! Eine Sauerei ist das. Wenn ich sowas schreibe, sperren die mich! Die Schweine!


Ingo musste seine Augen zusammenkneifen, um die Schrift auf dem Telefon noch lesen zu können. Und auch dann verstand er den Zusammenhang nicht. Er konnte mit dem kurzen Text nicht das Geringste anfangen. Er wusste nur, dass sich Johnny ganz offensichtlich im Ton vergriffen hatte. Außerdem zeugten Ausdruck und Rechtschreibung von einer eher kindlichen Idiotie. Das konnte sogar Ingo noch zweifelsfrei sagen.

Ja Johnny, warum schreibst du denn sowas, wenn die dich dann sperren? Lass es doch einfach sein. Ja, schreib sowas doch nicht, Herrgott.

Stellst du dich jetzt etwa auf deren Seite, durchfuhr es Johnny. Ich glaub es ja nicht, was für ein Kameradenschwein du bist. Ein richtiger Mitläufer bist du! Ich fass es nicht!

Johnny, ich stell mich hier auf gar keine Seite. Mir ist es völlig wurscht, was du da geschrieben hast. Ich frag mich nur, wo dein Problem ist.

Wo mein Problem is? 

Komm lass gut sein, drang Gabi von der Seite auf ihn ein. Der verstehtʼs ja doch nicht.

Ich verstehʼs nicht? Was meinsten damit?

Das werd ich dir sagen, bäumte sich Johnny plötzlich auf. Er musste sich beim Aufstehen am Tisch festkrallen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Wenn ich irgendwohin gehe, dann lass ich mir nicht von irgendwem den Mund verbieten! Hast du das verstanden?

Komm mal runter, Johnny. Erstens bist du grad vom Klo gekommen, du bist überhaupt nirgendwo gewesen... 

Du hast ja überhaupt keine Ahnung, du Idiot!

Und zweitens interessierst du dich überhaupt nicht für Politik. Hast du noch nie gemacht.


Ich sach dir jetzt mal was, unterbrach ihn Johnny. Das ist Einschränkung der Meinungsfreiheit! Die hamse mir genommen, die Schweine! Wie damals. Das is genau wie damals! Ich sags dir, wie damals is das. Ist nicht mehr weit, dann kommse mich holen.

Du hastse ja nich mehr alle, Johnny. Wen meinsten du? Dich hamse früher höchstens aus der Kneipe rausgeboxt. Und das aus gutem Grund.


Da kam dann auch schon die Faust geflogen. Ingo kippte vom Stuhl und lag der Festgemeinschaft bewusstlos zu Füßen. Der Abend war mehr oder weniger gelaufen. Das begriff auch Johnny ziemlich schnell und setzte sich schmollend in die Ecke, wo er stur und stillschweigend sein letztes Bier für den Abend leerte. Dann ging er nach Hause und dachte, er habe auch von Anfang an schon alles richtig gemacht.

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